Diverse soziale Brandherde brodeln zurzeit auf dem afrikanischen Kontinent. Zwei Artikel in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Konkret“ beschreiben die jeweilige Situation. Da sie jedoch nur bei der Beschreibung bleiben, sind sie erschreckend harmlos. Ein Konzept des Ökonomen Dani Rodrik gibt ein Werkzeug an die Hand, mit der die Misere verständlich wird. Seine Analyse stimmt jedoch wenig optimistisch.
Coronakrise in Tunesien
In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Konkret“ (09/21) behandeln zwei Artikel die politische Situation in Tunesien und Südafrika. Im ersten Artikel berichtet Bernhard Schmid über Tunesien. Dort regiert Präsident Kais Saied seit Juli, dank einer entsprechenden Verfassung, mit Notstandsverordnungen. Der Allleingang des Präsidenten wird sogar von großen Teilen der Bevölkerung unterstützt, da die amtierende Regierung für die sozialen und ökonomischen Probleme verantwortlich gemacht wird:
Von 2011 bis 2019 haben diese sich sogar verschärft. Zunächst verlagerten viele Investoren ihr Kapital aus dem durch politische Umbrüche und Instabilität geprägten Land. Marokko etwa, wo die wahre Macht beim Monarchen und beim Sicherheitsapparat liegt, galt vielen dagegen als sicherer Hafen. Außerdem versäumte es das Regierungspersonal in Tunesien, über einen Umbau des Wirtschaftsmodells nachzudenken und etwa einen Abschied von der starken Abhängigkeit von Europa in den wichtigsten Industrie- und Dienstleistungszweigen – Tourismus, Automobilzulieferer- und Textilindustrie – einzuleiten.
Bernhard Schmid: „Staatsstreich mit Genehmigung“, S. 29.
Mit der Coronakrise habe sich die politische Krise verschärft. Vor allem die wichtige Tourismusbranche habe der Wirtschaft unter den Corona-Einschränkungen besonders zugesetzt. Als mit Rücksicht auf die Hotelbranche die Grenzen wieder geöffnet wurden, führte dies im Sommer 2021 zu einem Zusammenbruch des Gesundheitssystems, inklusive der höchsten Corona-Sterberate auf dem ganzen Kontinent, berichtet Schmid.
Unruhen in Südafrika
Nur eine Seite der Zeitschrift weiter beschreibt Jürgen Schraten eine weitere Krise, nur dieses Mal auf der anderen Seite des afrikanischen Kontinents: in Südafrika.
Im ehemaligen Apartheidstaat wüten seit diesem Sommer brutale Unruhen. Der Auslöser, so Schraten, sei die Verhaftung des ehemaligen Präsidenten Jacob Zuma. Die besonders brutale Eskalation der Situation im Land erklärt uns Schraten durch die extreme Armut der Bevölkerung:
Die Arbeitslosenquote liegt bei über 32 Prozent. Die staatliche Statistikbehörde ermittelte im Mai 2020, dass ein Drittel der 60 Millionen Einwohner/innen ihren Lebensunterhalt nicht überwiegend aus Erwerbseinkommen eines Haushaltsmitglieds bestreiten können. 15,4 Prozent verfügten nicht einmal über ein solches Einkommen. Vor der Pandemie hatte ein Viertel der Menschen kein ausreichendes Einkommen aus Erwerbstätigkeit, fünf Prozent der Bevölkerung bezogen kein Einkommen.
Jürgen Schraten: „Going South“, S.30.
Wieso das Land nach der Apartheid immer noch keine annähernd gerechte Gesellschaft aufgebaut hat, beschreibt Schraten im Verlauf des Artikels. So haben von 1994 bis 2000 die herrschenden Klassen ihr Kapital, ca. 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, außer Landes geschafft. Gleichzeitig habe es aber auch eine anfänglichen Aufbruchstimmung Mitte der 90er Jahre gegeben, vor allem durch ausländisches Kapital, welches durch den aufgehobenen Wirtschaftsboykott in das Land strömte. Diese Euphorie habe jedoch nicht lang angehalten, denn:
Es fehlte an lokalen Unternehmen mit nennenswertem Arbeitskräftebedarf, die in der globalen Konkurrenz hätten bestehen können. Aufgrund der Kapitalflucht mangelte es außerdem an der ökonomischen Grundlage für eine durchgreifende Reform der Wirtschaft. Ein Großteil der finanziellen Ressourcen des Staates wurde für die dringend notwendigen Infrastrukturmaßnahmen in den vom Apartheidregime der Verelendung preisgegebenen Townships aufgebraucht. Arbeitslosigkeit und Armut stieg weiter an. HIV- und Tuberkulose-Epidemien verschärften die Lage insbesondere für die Ärmsten in der Bevölkerung zusätzlich.
Jürgen Schraten: „Going South“, S.31.
Die schwache südafrikanische Wirtschaft werde somit abhängig von ausländischem Geld, welches sie jedoch nicht profitabel reinvestieren könne und welches die Staatsschulden in die Höhe treibe. Schwerreiche Unternehmer, wie die Familie Gupta, die 1993 von Indien nach Südafrika kam, können so durch ihre vorhandenen Geldmittel unglaublich viel Einfluss ausüben und machten das Land von sich abhängig. Korruption und Klüngel seien dadurch Tür und Tor geöffnet, wie Schraten ausführlich berichtet.
Ausbeutung oder Überflüssigkeit?
Die Spaltung zwischen hoffnungslos-nihilistischen Protesten auf der einen Seite und einer vetternwirtschaftlichen Clique auf der anderen Seite ist für Schraten das Fazit, bei dem er auch keine Hoffnung auf Veränderung sieht. Der letzte Satz, jedoch, will nicht so ganz zur bisherigen Argumentation passen:
Dieses System bildet die südafrikanischen Brückenköpfe eines globalen Kapitalismus, der nach wie vor seine Reservearmeen von Arbeitslosen benötigt, um die nächste Runde der Expansion durch Ausbeutung einleiten zu können.
Jürgen Schraten: „Going South“, S.31.
Schraten hatte zuvor noch erwähnt, dass es nicht genug Bedarf nach der Ware Arbeitskraft gebe, als dass die Bevölkerung kapitalproduktiv beschäftigt werden könne. Seine ganze Argumentation läuft darauf hinaus, dass die Menschen, die da um ihr Leben kämpfen, vom globalen Kapital für überflüssig erklärt wurden und nun um ihre Existenz fürchten müssen.
Doch kaum kommt er zum Schluss seiner Ausführungen und damit zur politischen Konklusion, meint Schraten plötzlich, dass die Nachfrage nach den Arbeitskräften bestimmt bald komme und die Leute aus der Perspektive des Kapitals also keineswegs überflüssig seien. Denn aus der Perspektive der Klassenpolitik ist mit Menschen, die für das Kapital überflüssig sind, nicht viel anzufangen. Sie haben nämlich kein Druckmittel, mit dem sie der herrschenden Klasse das Fürchten lehren könnten. Um seine These zu retten muss Schraten die empirisch plausibel dargestellte Überflüssigkeit in die Vorgeschichte eines kommenden Klassenkampfes umdeuten.
Wieso aber hier von Ausbeutung reden, wo doch genau das Gegenteil passiert. Es ist eben die Überflüssigkeit der Menschen, welche hier offen dargelegt wird. Die Menschen werden im Sinne der kapitalistischen Verwertung nicht gebraucht, deshalb kümmert sich auch niemand um sie.
Auch wenn beide Texte die ökonomischen Rahmenbedingungen der Länder erwähnen, erwecken sie durch ihre unkritisch-deskriptiven Stil den Eindruck, die jeweiligen herrschenden Klassen, Cliquen oder Regierungen seien vor allem schuld an der desaströsen Situation.
De-Industrialisierung in Entwicklungsländern
Jenseits der persönlichen Rechenschaft einzelner Regierungen, welche natürlich nicht komplett zu ignorieren sind, könnte auch eine andere Erklärung herhalten. Was, wenn diese Länder durch gewisse globale Schranken nicht mehr in der Lage sind aus ihrer Misere herauszukommen? Der Harvard Professor Dani Rodrik behauptet genau das und sieht die Ursachen in einer „verfrühten Deindustrialisierung“ (premature industrialisation).
Damit beschriebt Rodrik solche Länder, die im Vergleich zu anderen wirtschaftlich erfolgreichen Industrienationen deutlich früher mit der Deindustrialisierung beginnen. Klassische Industrienationen, also Früh-Industrialisierer, hätten mit der Deindustrialisierung auf einem viel höheren Einkommensniveau als Entwicklungsländer, also Spät-Industrialisierer, begonnen. Für Rodrik sei diese Entwicklung „unreif“, da eine solch frühe Deindustrialisierung negative Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum hätte.
Doch um Wirtschaftswachstum zu generieren, sei das verarbeitende Gewerbe unabdingbar. Erstens könnte die Industrie in der Regel eine hohe Produktivität halten, ohne dafür, im Gegensatz zu anderen Branchen, besonders aufwendig ausgebildetes Personal zu benötigen. Zweitens sauge es große Mengen an ungelernten Arbeiter*innen in die Verwertung, was in anderen Branchen wie dem Bergbau oder dem Finanzsektor nicht der Fall wäre. Drittens sei die verarbeitende Industrie wichtig für den Handel ins Ausland. Denn der sei nicht abhängig von einer einkommensschwachen Bevölkerung. Somit könne die Wirtschaft expandieren und Arbeitskräfte aufnehmen, selbst wenn der Rest der Wirtschaft (technologisch) stagniert. Diese Faktoren zusammengenommen machen die verarbeitende Industrie zum Inbegriff für den Start in eine erfolgreiche Modernisierung.
Länder, die erst spät mit der Industrialisierung begonnen haben und gleichzeitig dem hohen Produktivitätsstandards der westlichen Industriemächte ausgesetzt werden, konnten auf dem Weltmarkt nicht mithalten, weshalb ihre Industrien verkümmerten. Dieses Phänomen ist unter Entwicklungsländern eher Regel als Ausnahme. Betroffen sind vor allem Teile Asiens, der südamerikanische- und der afrikanische Kontinent. Gerade hier zeichnen sich die Ökonomien durch eine Konzentration auf Primärgüter (Rohstoffe) aus.Das verstärke die De-Industrialisierung jedoch noch zusätzlich, da sich durch den Handel mit unverarbeiteten Rohstoffen weder eine Industrie aufbauen noch viele Arbeitsplätze binden ließen. Ein Abschnitt lässt sich dabei verblüffend gut auf die oben angeführten Berichte anwenden:
An Wachstum hat es in den Entwicklungsländern seit Mitte der 1990er Jahre nicht gemangelt. Aber außerhalb Asiens und der kleinen Gruppe der Exporteure des verarbeitenden Gewerbes zeigen die Indizien, dass dieses Wachstum nicht durch den traditionellen Mechanismus der Industrialisierung angetrieben wurde. Viele der Wachstumsbooms scheinen durch Kapitalzuflüsse, externe Transfers oder Rohstoffbooms angetrieben worden zu sein, was Fragen nach ihrer Nachhaltigkeit aufwirft.
Rodrik 2016, Seite 29. (Übersetzung N.G.)
Auch die Hoffnungsträger des Finanzsektors und der IT-Branche sieht Rodrik kritisch. Sie benötigten hochqualifiziertes Personal und absorbierten nicht die Art von Arbeit, welche in den westlichen Ländern für das niedrige und mittlere Einkommen sorgen. Außerdem seien diese Produkte schwer zu handeln, sie begrenzten sich vor allem auf die inländischen Grenzen. Das obere Zitat paraphrasiert also die Beschreibung der südafrikanischen Ökonomie aus dem Artikel von Jürgen Schraten, die von ausländischem Kapital kurzzeitig profitieren konnte.
Nacholende Modernisierung
Rodriks Theorie der unreifen Industrialisierung zeigt ein Phänomen, welches in wertkritischen Diskussionen schon öfter als „nachholende Modernisierung“ aufgetaucht ist. Beispielsweise wurde mit diesem Begriff der erstarkende Islamismus seit den 00er Jahren als keineswegs vormoderne, sondern als zutiefst moderne Erscheinung entlarvt.
Genauso sollte die Misere der Entwicklungsländer nicht als Erscheinung irgendeines kulturellen, oder biologischen Wesens einer Gruppe oder der Verantwortung der Bevölkerung, ihrer Regierungen oder der Kapitalisten herhalten. Der Kapitalismus ist inzwischen weltweit so vernetzt, dass sich solche Phänomene kaum auf einzelne regionale Akteure reduzieren lassen. Auch die in den Texten von Schmid und Schraten geforderte „Reform der Wirtschaft“ wirkt im Licht dieses Kontextes wenig hilfreich, egal ob sie an finanziellen Mitteln oder politischen Entscheidungen scheitern.
Um aus den Notwendigkeiten zu entfliehen, muss der gesellschaftliche Rahmen gesprengt werden. Ein erster Schritt dafür könnte sein, darüber nachzudenken, wie sich eine Gesellschaft aufbauen lässt, in der jeder von der modernen Technologie profitieren kann, ohne von ihr beherrscht zu werden.