Marx Spiegel Zeit
Die Einfallslosigkeit des deutschen Feuilleton

Alle Jahre wieder: Das Feuilleton entdeckt Karl Marx

Ob Finanz- oder Klimakrise: Regelmäßig muss Karl Marx für alle möglichen Krisenanalysen und Alternativentwürfe herhalten. Dabei bleibt der wirkliche Gehalt seiner Kritik meistens im Dunkeln.

von Finn Gölitzer

Es ist wieder soweit. Alle paar Jahre wagen sich die deutschen Feuilletons an die Marxsche Theorie. Zuletzt stellte die Wochenzeitung Die Zeit auf ihrem Titelblatt die Frage: „Hatte Marx doch recht?“ (05/2017). In der Ausgabe sinnierte der deutsche Star-Ökonom Hans-Werner Sinn über „die Marxisten in der EZB“ und Thomas Piketty verkündete selbstbewusst Marx‘ Werk sei (im Gegensatz zu seinem eigenen) „viel zu theoretisch und spekulativ“.

Dieses Mal ist es Der Spiegel, der den Theoretiker für die erste Ausgabe (01/2023) im neuen Jahr aus seinem Repertoire für hochgestochene Titelthemen gekramt hat. Unter derselben Frage wie damals Die Zeit titelt die Zeitschrift: „Warum der Kapitalismus so nicht mehr funktioniert – und wie er sich erneuern lässt“. Auffällig ist dabei wieder einmal eines: Wollen die Leser:innen erfahren, weshalb und vor allem womit denn nun Marx doch recht hatte, werden sie bitter enttäuscht. Denn zu Marx‘ Theorie erfahren sie dort so gut wie gar nichts. Die Spiegel-Redakteur:innen haben es geschafft, in einer üppigen Titelstory von verschiedensten Problemanalysen und Alternativvorschlägen zu der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zu berichten, ohne substanziell auf Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie einzugehen.

Kapitalismus auf die sanftere Tour

Stattdessen lassen sie unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen, die doch alle mehr oder weniger dasselbe zu verkünden scheinen: Der Kapitalismus gehöre ja eigentlich gar nicht überwunden, sondern müsse lediglich etwas heruntergefahren werden. Diese Postwachstum-Version eines besseren Kapitalismus ist in der entsprechenden Artikelüberschrift prägnant auf den Punkt gebracht: „Auf die sanftere Tour“ heißt es dort in Bezug auf das kapitalistische Wirtschaftssystem. Dass die im Artikel herangezogenen Positionen alle gleichsam unter dieser allgemeinen Stoßrichtung zusammengefasst werden ist erstaunlich, schließlich handelt es sich dabei um durchaus sehr unterschiedliche Persönlichkeiten. Ob Fridays For Future Aktivistin Carla Reemtsma, Hedgfond Manager Ray Dalio, der Philosoph Kohei Saito, die Sozialistin Alexandria O‘ Cortez oder die Ökonomin Mariana Mazzucato, sie alle würden sich einer gemeinsamen politischen Forderung zuordnen lassen: „weniger Markt, mehr steuernder Staat und weniger Wachstum auf Teufel komm raus“.

Obwohl sich die genannten Personen bestimmt nur ungern in einen gemeinsamen Topf werfen lassen würden, werden die Autor:innen nicht müde, der aktuellen Debatte eine angebliche Überwindung ideologischer Gräben zu attestieren. Manager hörten sich an wie Marxisten und anders herum. Und so wird dieselbe Analyse immer wieder in nur verschiedenen Versionen dargelegt. Der Kapitalismus sei „übertrieben“ worden, die Finanzindustrie haben ihn „entfesselt“, weshalb nun wieder vermehrt der Staat die Zügel in die Hand nehmen müsse, um eine Gesellschaft mit weniger Wachstum und Ungleichheit zu garantieren.

Warenproduktion als Kern des Kapitalismus

Was das alles mit Marx zu tun hat, bleibt jedoch im Dunkeln. Dabei hätte es den Artikel durchaus erhellen können, wenn die Autor:innen ihre blauen Bände nicht bloß als Aufmacher aus dem Regal geholt, sondern auch gelesen hätten. Dann hätte sich womöglich gezeigt, dass Marx die kapitalistische Gesellschaft nicht als Marktwirtschaft definierte, sondern als ihren Kern die wertschaffende Warenproduktion ausmachte. Dann wüsste man zudem, dass ein „sanfterer Kapitalismus“ keine substanzielle Alternative zu einem „Turbokapitalismus“ darstellen kann, da sie derselben Funktionsweise entsprechen.

Wurde in großen deutschen Zeitungen mit Marx getitelt, so meistens, um jedoch genau das zu behauptet. Zuletzt war es die Finanzkrise 2008 in der Marx aus dem Hut gezaubert wurde, um als theoretischer Garant den Feldzug gegen das verteufelte Finanzkapital zu unterstützen. Mal blieb es bei plumpen Finanzmarktschelten, mal uferte die Pseudo-Kritik jedoch auch in personifizierte und oftmals antisemitisch konnotierte Hetze gegen Bänker:innen und Spekulant:innen aus. Nun wird Marx ausgegraben, um die Klimakrise zu erklären. War es damals der rücksichtslose Spekulationswahn des Finanzkapitalismus der die Weltwirtschaft in die Krise trieb, ist es heute der „Shareholder-Kapitalismus“ der den „Grenzen des Wachstums“ entgegenstehe.

Entdeckt man Marx in dieser Zeit auf Titelblättern, bekommt man beim Lesen den Eindruck, er selbst hätte zwischen einem guten, vernünftigen und einem bösen, entarteten Kapitalismus unterschieden. Dabei ging es Marx um die Irrationalität der ökonomischen Vernunft per se. Was gemeinhin zur Ursache erklärt wird, ist in Wirklichkeit nur Symptom eines viel tiefer reichenden Krisenprozesses, der in der kapitalistischen Produktionsweise selbst verankert ist.

Was nun als Erbfolge der Marxschen Theorie in der aktuellen Ausgabe des Spiegels präsentiert wird, hat mit der ursprünglichen Kritik wenig zu tun. Ohne Bedenken wird der Kapitalismus dabei mit dem Markt in eins gesetzt, weshalb die Autor:innen auch keine Probleme damit haben, die lauter werdenden Stimmen nach mehr staatlicher Kontrolle würden eine allgemeine Marx-Renaissance bezeugen.

Marx beschäftigte sich aber nicht nur mit den Eigentumsverhältnissen oder der Zirkulationssphäre des Kapitals, sondern mit ihrer Produktionsweise. Diese wird von ihm durch wertschaffende Arbeit bestimmt, also Arbeit die von den Gebrauchswerten abstrahiert und nur einen einzigen Zweck kennt: Die Realisierung von Wert. Marx beginnt „Das Kapital“ nicht umsonst mit der Analyse der Ware, weil sie die Form ist, in der sich der Wert verbirgt und den Kern der kapitalistischen Produktionsweise ausmacht. Dass diese Gesellschaft immerzu auf Wachstum drängt, obwohl sie dabei ihre eigenen Lebensgrundlagen zerstört, liegt also nicht an ignoranter Unternehmenskultur oder überbordenden Konsum. Sondern an der Verselbstständigung des selbstverwertenden Werts, der stehts danach strebt sich zu vermehren. Ob sich dieser Prozess unter direkter Hand des Staates oder dem Markt abspielt, ist dafür erst einmal unwesentlich. Aktuell hoch im Kurs stehende Konzepte einer Postwachstums-Gesellschaft entsprechen deshalb eher einem Staatskapitalismus aus den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts als einer postkapitalistischen Gesellschaft.

Der Versuch den Kapitalismus zu kritisieren, ohne über dessen „Elementarform“, die Ware, zu sprechen, zeugt von der begrenzten Bereitschaft Marx wirklich lesen und verstehen zu wollen. Dabei ist die Ahnung, dass er zur Erklärung aktueller Krisen etwas beitragen könnte, gar nicht so falsch. Mit ihm ließe sich die Widersprüchlichkeit dieser Gesellschaft durchaus aufzeigen: Obwohl es genug stofflichen Reichtum für alle gäbe, müssen wir doch mit täglicher Arbeit die Wertproduktion am Laufen halten. Was von dieser Kritik als Residuum in den Feuilletons übrigbleibt, fällt jedoch weit hinter diese Einsicht zurück.

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