Im Rahmen der Black Lives Matter Bewegung (nicht nur) in den USA kam es auch im deutschsprachigen Raum immer wieder zu Diskussionen über Rassismus in der Geschichte der Philosophie. Insbesondere Immanuel Kant stand dabei immer wieder in der Kritik. Es dauerte also nicht lange und die geneigten Leser*innen konnte auf der Seite des Nachrichtenmagazins n-tv eine bemerkenswerte ideologische Finte nachlesen. Im Anschluss an die Berichterstattung über Angriffe auf Denkmäler in den USA dient eine in Deutschland lautgewordene Kritik an Bismarck-Denkmälern zum Aufhänger, die Argumentation einmal umzudrehen: die größten Kritiker der Elche seien nämlich selber welche. Und der größte unter ihnen, geradezu ein „Säulenheiliger“ der Linken, sei Karl Marx. Es folgt ein flockig formulierter Text, indem die aus libertären Kreisen bereits wohlbekannten Marx-Zitate zu Schwarzen auf der einen und Jüdinnen und Juden auf der anderen Seite wiedergegeben werden. Während das Portal den Hinweis auf Bismarck als „Begründer des deutschen Kolonialismus“ ins passiv setzt, ist man sich bei Marx ganz sicher: „Er ist in der Kategorie ,Rassist‘ weit vor Bismarck einzuordnen.“
Und was machen die Linken? Die wenden sich nicht etwa erschreckt von ihren Idol ab, sondern halten trotz alledem daran fest, sich mit ihrer Kritik auch weiterhin auf den ollen Marx beziehen zu wollen. Wie kann es also sein, das der Marx trotz der (unbestritten korrekten) Zitate weiterhin als Stichwortgeber für eine linke Theorie und Praxis gelten kann?
Der vom Nachrichtenmagazin vorgenommene Vergleich eines seinerzeit unbedeutenden Theoretikers mit dem Regierungschef des deutschen Kaiserreiches, das ja immerhin einen Kolonialkrieg mit der genozidalen Auslöschung der Herero und Nama zu verantworten hatte (wenn auch nicht unter seiner Regentschaft) macht deutlich, worum es in Wirklichkeit geht: nicht um eine Aufarbeitung oder gar kritische Auseinandersetzung mit Rassismus, sondern um billige Propaganda. Stattdessen neigen nun Linke aber dazu, sich mit den inhaltlichen Aussagen von Leuten zu beschäftigen und diese in Bezug zu ihrem Schaffen zu setzen. Wie also lassen sich die Aussagen von Marx inhaltlich einordnen?
Um sich dieser Frage zu nähern, wollen wir zunächst die beiden Teilfragen auseinanderhalten und uns ihnen getrennt zuwenden: War Marx Rassist? War Marx Antisemit?
Diese Fragen sind dann allerdings so unspezifisch, dass unklar ist, worauf genau sie sich beziehen. Wir können schließlich nicht in den Kopf von dem Kollegen reingucken, er ist ja schon eine Weile (ganz empirisch) ein „toter Hund“. Insofern ist es wichtig, die hinter den Vorwürfen stehenden Aspekte deutlicher zu benennen: Hat Marx rassistisch dahergeredet? Hatten Marx gesellschaftskritischen Theorien ein rassistisches Moment? Hat Marx antisemitisch dahergeredet? Hatten Marx gesellschaftskritische Theorien ein antisemitisches Moment?
Hat Marx rassistisch und antisemitisch dahergeredet?
Daran lässt sich wenig deuteln. Bereits die in den letzten Jahren zu einiger Prominenz gelangte Lesung mit Gregor Gysi (als Friedrich Engels) und Harry Rowohlt (brilliant besetzt als Karl Marx) aus den Briefen der Klassiker ist hier ebenso erschütternd wie erhellend. Ein wenig liest sich der Beitrag auf n-tv auch so, als läge ihm eine etwa einstündige Recherche via Hörbuch zugrunde. Selbiges ist schon harter Tobak und die im n-tv-Text wiedergegeben Zitate sind ja leider tatsächlich nicht erfunden.
Diese Einsicht gilt nicht nur für Marx‘ rassistische Auslassungen, sondern auch für diverse antisemitische Stereotype, die sich immer wieder nicht nur in seinen Briefen, sondern auch in seinen Veröffentlichungen finden lassen. Ich möchte im Folgenden aber etwas genauer schauen, ob diesen Stereotypisierungen innerhalb des Marxschen Theoriekorpus auch eine systematische Funktion zukommt.
Hatten Marx gesellschaftskritischen Theorien ein rassistisches Moment?
Ein Großteil der immer wieder zitierten rassistischen Ausfälle von Marx finden sich in Briefen, einige wenige auch journalistischen Arbeiten. Bei Letzteren ist es insbesondere Marx‘ Haltung zum britischen Kolonialismus in Indien, die in der Kritik steht. Hier äußert sich Marx nämlich nicht durchgehend negativ, sondern hebt durchaus einige Aspekte hervor, die er in eine allgemeine Fortschrittserzählung einbettet. Dabei benennt er zwei empirisch durchaus korrekte Punkte: einerseits haben die britischen Interventionen in Indien den Prozess einer Eingliederung der indischen Gesellschaft in die kapitalistische Fortschrittsgeschichte nicht nur beschleunigt, sondern überhaupt erst hervorgebracht. Und andererseits war diese Transformation immer auch ein Angriff auf die althergebrachten Traditionen einer patriarchal und in Kasten organisierten Gesellschaft, die für sich genommen keinen Eigenwert besitzen und im Gegenteil dazu für die Menschen vor Ort oft Repression und Unterdrückung bedeutet haben. Vor dem Hintergrund dieser Überlegung wäre bei Marx‘ Aussagen zur britischen Kolonialgeschichte immer noch einmal zu überprüfen, inwiefern er hier tatsächlich der Kolonialgesellschaft das Wort redet und inwiefern er auf tatsächliche Verbesserungen für die Menschen vor Ort hinweist.
Um nun nicht falsch verstanden zu werden: Sicherlich gibt es auch die Passagen, in denen Marx das Verhältnis von Kolonialmacht und Kolonisierten derart darstellt, dass der erst aus diesem entstehenden Hungersnöte als Notwendigkeit innerhalb eines historischen Zivilisationsprozesses erscheinen. Trotz allem gilt es hier, bei den einzelnen Passagen den argumentativen Kontext abzuwägen und den Marx‘schen Text darauf abzuprüfen, inwiefern er kolonialistisch argumentiert und inwiefern er lediglich eine frühe Kritik am Kulturrelativismus formuliert.
Darüber hinaus liegen die Dinge auch auf einer anderen Ebene tiefer als oft vermutet. Denn wenn etwa der postkoloniale Theoretiker Edward Said in den Indienbriefen von Marx einen kolonialen Duktus daran festmacht, dass Marx hier standardisierte Gegenüberstellungen von Westen und Osten bedient (zivilisiert/ primitiv, rational/ emotional etc.), dann sollten wir noch mal genau hinschauen. Denn Marx bezieht sich ja mit der der Vernunft, die er dem Westen zu- und dem Osten abschreibt, nicht auf einen überzeitlichen Wert, sondern auf ein Spezifikum moderner kapitalistischer Gesellschaften. Und auch denen ist die Form der Vernunft, die alle Handlungen an den eigenen Interessen ausrichtet und jederzeit bereit ist, andere Menschen ebenso wie die Natur dafür über die Klinge springen zu lassen, nicht einfach zugefallen. Sie musste vielmehr in einem langen historischen Prozess gewaltsam in die Menschen hineingefoltert werden (und das auch ganz wörtlich, etwa in den bei einigen liberalen Vordenkern sehr beliebten Arbeitshäusern).
Mit anderen Worten: von Rationalität und Vernunft beherrscht zu sein (und andere mit ihren Mitteln zu beherrschen) ist keine Wohltat, sondern selbst bereits eine Zumutung an die Menschen. Während die liberale Geschichtsphilosophie diese Zumutungen aber rein affirmativ präsentiert und in der Absicht der Rechtfertigung der eigenen Kolonialpraxis den Menschen in Indien vorwirft, sie wären zu derlei nicht in der Lage, ist Marx hier ambivalenter. Einerseits ist auch er nicht frei von den liberalen Verkürzungen, andererseits finden sich bei ihm aber bereits erste Elemente einer fundamentalen Kritik dieser falschen Vorstellungen von der Welt.
Insofern Marx hier die Kolonialpolitik also ganz klassisch in eine geschichtsphilosophische Erzählung einbettet, erfindet er diese nicht neu, sondern übernimmt sie aus der liberalen Erzählung eines durch den Markt vorangetriebenen allgemeinen Fortschritt des Menschengeschlechts, die wir bereits bei Adam Smith finden. Insofern einzelne Passage seiner journalistischen Arbeiten auf eine Befürwortung des Kolonialismus als „white mens burden“ hinauslaufen, lassen sich in diesen zwar durchaus rassistische Momente erkennen (auch wenn argumentativ der Kolonialismus sicherlich dem Rassismus vorgelagert ist), das trifft allerdings auf weite Teile seiner späteren, systematischen Theoriebildung (etwa im Kapital) nicht zu.
Hatten Marx gesellschaftskritische Theorien ein antisemitisches Moment?
Der Vorwurf des Antisemitismus gegen Marx ist beinahe so alt wie das Œuvre von Marx. Bereits im Jahr 1946 findet sich – in kritischer Absicht dazu – diese Bemerkung des ausgewiesenen Marxkenners Roman Rosdolsky zum Vorgehen in derartigen Fällen. Es passt sehr schön auch zum n-tv-Beitrag, in dem ja der Antisemitismus begrifflich durchaus unterkomplex nur als eine Unterform des Rassismus behandelt wird.
Man exzerpiert eine Anzahl Zitate aus ihren (Marx und Engels) Werken und privaten Korrespondenzen und setzt dann diese Zitate dem Begriff des ,Antisemitismus‘ entgegen, wie ihn der betreffende Autor (oder richriger: der ,gesunde Menschenverstand‘ seiner Umgebung) auffaßt. Das Ergebnis dieses unkritischen (weil durchaus unhistorischen) Verfahrens ist, dass schließlich auch die Begründer des Marxismus als eine Art geistige Waffenbrüder von Julius Streicher erscheinen.
Zit. n. Claussen, Detlev (1987): Grenzen der Aufklärung. Zur gesellschaftlichen Geschichte des modernen Antisemitismus. Frankfurt am Main : Fischer, S. 58
Nun gibt es selbstverständlich die Marxsche Schrift „Zur Judenfrage“, in der Marx seine Haltung zum Judentum dargelegt hat. Doch noch bevor wir uns seine Argumentation in diesen oder anderen Text näher ansehen können wir feststellen, dass diese innerhalb des Marxismus nicht als Quelle für antisemitische Agitation herangezogen wurden. Auch wenn der traditionelle Marxismus in Bezug auf die Frage des Antisemitismus sicherlich auf beiden Augen blind war und sich selber nicht selten in einer zumindest strukturell antisemitische Argumentation wiedergefunden hat, lässt sich der Bogen zum Original nicht so leicht schlagen, wie viele das gerne hätten. Denn Marx hatte zu seinen Lebzeiten praktisch für die Judenemanzipation Partei ergriffen. Obwohl er mit dem jüdischen Glauben als Religion nichts anzufangen wusste (ebensowenig wie mit anderen Religionen; er kam ja selbst aus einer zum Protestantismus konvertierten Familie), hat der sich doch politisch gegen Judenfeindlichkeit ausgesprochen. Er geht dabei in seiner Argumentation in der Judenfrage (und auch in späteren Passagen etwa im Kapital) von der reaktionären Gleichsetzung von Judentum und Handel aus und arbeitet heraus, dass durch diese die Folgen gesellschaftlicher Entwicklungen („Handel“) auf eine bestimmte Menschengruppe (Jüdinnen und Juden) projiziert werden.
„Der Jude“ steht hier als dechiffrierte Metapher für das antisemitische Stereotyp, quasi als Charaktermaske. Marx hat also gar nicht vor „den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, sosehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag.“ (Marx im Vorwort zum Kapital).
Dieser Logik folgen in der Regel auch die vielen Zitate im „Kapital“, in denen Marx metaphorische Bemerkungen über die Geschichte des Judentums einfließen lässt. Um es in der gebotenen Kürze an einem auch im hier diskutierten n-tv-Artikel verwandten Zitat zu zeigen: „Waren“ – Marx meint hier die besonderen Wald-und-Wiesen-Waren im Unterschied zur Ware Geld – bezeichnet er als „innerlich beschnittene Juden“. Während der bürgerliche Alltagsverstand zwar dem Geld dessen Funktion für die stete Verwandlung von Geld in „mehr Geld“ ansieht, scheint die übrige Warenwelt von derartigem Ungemacht frei zu sein. Tatsächlich, so argumentiert Marx, seien aber Waren und Geld beide nur Teile in einem steten Formwandel des ökonomischen Wertes, der sich von Ware in Geld und von Geld in Ware verwandle. Wenn im bürgerlichen Selbstbewusstsein das Judentum nun also mit dem Geld assoziiert werde, dann eben deshalb, weil dem Geld seine Verquickung mit dem „Geheimnis der Plusmacherei“ von außen anzusehen ist – ebenso wie Juden ihre Zugehörigkeit zum Judentum aufgrund ihrer Beschneidung äußerlich anzusehen ist. Waren, so Marx‘ Argument, seien hier aber qualitativ auch nichts anderes als das Geld. Da es ihnen aber nicht auf den ersten Blick anzusehen ist (ihnen also – um im Bilde zu bleiben – die (äußere) Beschneidung fehlt), sind sie „innerlich beschnittene Juden“. Auf diese Weise destruiert Marx die Vorstellung vom Geld als Ursache allen Übels ebenso wie er die simple Identifikation des Judentums mit dem Geld verballhornt. Insofern handelt es sich bei der entsprechenden Textstelle auch nicht einfach um einen Beleg für Marx‘ Antisemitismus, sondern um einen frühen Versuch der Kritik der Gleichsetzung von Judentum und Geld noch bevor sich die entsprechenden Stereotype im Weltbild eines modernen Antisemitismus ihre mörderische Realität entfalten konnten.
Ein Versuch freilich, der uns heute mit Kenntnis der Vernichtungsgeschichte des Antisemitismus ein wenig halbherzig erscheinen mag. Doch das liegt weniger an dem Standpunkt, von dem aus Marx vor über 150 Jahren diese Texte geschrieben hat, sondern vielmehr an dem Standpunkt den wir heute, in einer Gesellschaft nach Ausschwitz, einnehmen.