Ulrike Herrmann hat eine über 300-seitige Abrechnung mit der Wirtschaftsgeschichte der deutschen Nachkriegsgesellschaft geschrieben. Es kommen dabei allerdings nur die wenigsten Protagonisten (in fact nur Männer) gut bei weg.
Der ehemalige Wirtschaftsminister und Bundeskanzler Ludwig Erhard gebärdet sich zu marktliberal und hat von Ökonomie ohnehin keine Ahnung, der Sozialdemokrat Kurt Schuhmacher hingegen wollte zu viel Planwirtschaft und hat damit die deutschen Wähler*innen an den Urnen in die Arme des marktliberalen Erhard-Clans getrieben. Der frühere NSDAP-Kader und spätere Bundesbankchef Otmar Emminger hat die Bundesbank in eine antidemokratische Position manövriert, in der sie einseitig die Gewinne der Geldbesitzer*innen im Auge hatte und nicht nur von der gewählten Politik unabhängig agieren, sondern ihr zudem ordentlich ins Handwerk pfuschen konnte. Und nicht zu vergessen Oskar Lafontaine, der es dann mit der deutschen Einheit verkackt hat, weil er zum deutschen Übervater Kohl auf Distanz gegangen war und in der Wiedervereinigung das Potential für eine veritable Verarmung weiter Teile der (ostdeutschen) Bevölkerung sah.
Einzig zwei Namen sind dem Rezensenten in Erinnerung geblieben, über die die Autorin erstaunlich wenig negatives, dafür aber doch das eine oder andere positive zu sagen wusste: Konrad Adenauer (der hat sich nämlich Emminger und Erhard stets widersetzt) und Helmut Kohl (der den Umtausch von Ost- gegen Westmarkt im Verhältnis 1 : 1 mit Bravour durchgeboxt hat).
Insbesondere Ludwig Erhard bekommt sein Fett weg. Ein nicht unwesentlicher Teil des Buches besteht in einer genüsslichen Dekonstruktion der Figur Erhards als eines umsichtigen Wirtschaftslenkers. Tatsächlich sei der ein ziemlich verlogener und zudem unfähiger Kerl gewesen, der nur mit viel Schaumschlägerei und hinterhältiger Heuchelei überhaupt an der Macht gelangen konnte bzw. sich dort habe halten können.
Die Ludwig-Erhard-Stiftung ist dementsprechend auch entsetzt: ganz unwissenschaftlich sei dies Machwerk, denn es berufe sich – Achtung, Argument – ausschließlich auf Literatur, die eine wirtschaftswissenschaftlichen Strömung zuzurechnen sei, die der Politik Erhards kritisch gegenübersteht. Merke: wer etwas tut, was einem nicht gefällt, der ist eben deshalb unwissenschaftlich, weil er das tut. Wer sich hingegen positiv mit dem Namensgeber und dessen Politik auseinandersetzt ist seriös und wissenschaftlich. Das gleiche gilt auch für die deutsche Wirtschaftspolitik vor und nach dem 2. Weltkrieg. Da sei es um die Nation gar nicht so schlecht bestellt gewesen, wie die Autorin behauptet. Deutschland sei nicht „zu arm“ gewesen um den 2. Weltkrieg zu gewinnen, sondern schlicht „zu klein“. Fast klingt es, als wäre das mit dem „Lebensraum im Osten“ doch irgendwie eine gute Idee gewesen und die Ludwig-Erhard-Stiftung nun ein wenig traurig, dass es dann nicht geklappt hat.
Auch das deutsche Feuilleton ist skeptisch: Ursula Weidenfeld etwa bemerkt im Deutschlandradio die Geschichte vom deutschen Wirtschaftswunder nach 45 mal auszumisten sei ja schön und gut, aber sei das nicht doch etwas „zu gründlich“? Denn in Wirklichkeit gehe es der Autorin gar nicht um eine Kritik der Person Ludwig Erhards oder selbst nur einer Kritik der Wirtschaftspolitik im Nachkriegsdeutschland, sondern stattdessen um eine Kritik am Heiligsten der deutschen Wirtschaft: an Wachstum und Wohlstand. Dabei übersehe die Kritik aber, wie erfolgreich „die Deutschen im 20. Jahrhundert nach den verlorenen Weltkriegen“ ökonomisch aufholen konnten – obwohl sie doch „zweimal um große Teile ihres Vermögens enteignet wurden“.
Im Vergleich zu seinen Kritiker*innen erscheint das Buch von Herrmann durchaus progressiv und aufklärerisch. Und wem an einem kursorischen Überblick über die Geschichte der ökonomischen Entwicklung im Nachkriegsdeutschland gelegen ist, bekommt ihn hier auch prompt geliefert. Und doch muss der Blick, mit dem Herrmann hier (wie bereits in ihrem Buch zur Geschichte der Wirtschaftswissenschaften) auf die kapitalistische Ökonomie blickt, doch etwas verwundern. Ihr Ausgangspunkt ist stets der verallgemeinerte ökonomische Wettbewerb, in dem viele Anbieter*innen um wirtschaftlichen Erfolg kämpfen. Das gilt ihr als gerecht und hat angeblich zur Folge, dass sich der gesellschaftliche Reichtum gerecht in der Gesellschaft verteilt. Insofern sind „Wohlstand“ und „Wachstum“ gar nicht unbedingt der Gegenstand ihrer Agitation, wie es Ursula Weidenfeld nahelegt. Stattdessen seien Monopolbildungen, wirtschaftliche Kartelle und ungleiche Vermögensverteilung die zentralen Kritikpunkte an deutschen Ökonomie. Damit kann sie das utopische Bild eines gerechten Wohlfahrtkapitalismus an die Wand malen, obwohl sie gleichzeitig zugeben muss, dass es den selbst in den Hochzeiten des Wirtschaftswunders nie gegeben hat (das lag, so ihre Vermutung, an der falschen, marktzentrierten Wirtschaftspolitik und der falschen Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften).
Nun ist es sicherlich richtig, dass in Bezug auf die Vermögensverteilung krasse Ungleichgewichte herrschen (Herrmann verweist darauf, dass das oberste Prozent der reichsten Vermögensbesitzer*innen über 30% des Vermögens besitzt) und hier die eine oder andere Vergesellschaftung sicherlich nichts schaden würde.
Woran Herrmann aber nicht rütteln will, sind der Modus der Produktion (die als Privatproduktion stets als Konkurrenzveranstaltung organisiert bleiben soll) und des Tausches (der selbstverständlich über den Tausch von Gütern und den damit verbundenen Vergleich von Arbeitszeiten organisiert sein soll). An deren Kritik werden wir allerdings nicht vorbeikommen, denn diese Mechanismen zeigen tagtäglich nicht nur, dass sie keinen Spaß machen, sondern zudem, dass sie nicht funktionieren.
Rezension zu:
Ulrike Herrmann:
„Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen: Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind“
Westend Verlag, Frankfurt 2019
320 Seiten, 24 Euro