Kinder kommen in Corona-Zeiten noch schlechter weg als sonst. Grafik von Alexas Fotos

Geschlossene Kitas und Schulen machen Kinder krank

Wie so häufig in Deutschland steht das geistige und körperliche Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen nicht im Vordergrund, wenn es um ihre Angelegenheiten geht. Kinder und Jugendliche haben keinerlei Mitspracherecht und ihre Meinung ist selten gefragt. Das zeigt sich in Zeiten von Corona besonders deutlich. Der Kita- und Schulbetrieb wird von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich gehandhabt und Fakt ist, dass inzwischen Kinder und Jugendliche viele Monate gezwungen waren und weiter sind, sich rund um die Uhr zu Hause aufzuhalten. Deshalb sind sie häufiger und dauerhafter starken emotionalen und körperlichen Belastungen ausgesetzt. Dass viele Kinder und Jugendliche unter dem langen Ausfall von Kita und Schule leiden, wird eher selten in den Medien thematisiert. Dagegen stehen die Belastungen der Erwachsenen, der Eltern, Lehrer*innen und Erzieher*innen im Fokus.

Sofern es um die Kinder geht, macht besonders den bildungs- und leistungsorientierten Erwachsenen der Ausfall der Stoffvermittlung zu schaffen, der „zu nicht aufholbaren Wissenslücken“, schlechteren Prüfungsvoraussetzungen und sinkenden Notendurchschnitten führt und ihnen die berufliche und einkommensmäßige Zukunft erschwert. In den letzten Tagen stößt man häufig auf Titel wie: „Schulausfall kostet zukünftige Generationen bis zu 3,3 Billionen Euro“. Dort heißt es: „Homeschooling und Distanzunterricht können geöffnete Schulen nicht ersetzen, warnt das Ifo-Institut. Eine ganze Generation Schüler werde ökonomisch abgehängt, ohne die Chance, die Verluste wieder aufzuholen“

Neben der elterlichen Belastung werden in erster Linie die Aspekte des Kita- und Schulausfalls beklagt, die in Beziehung zur späteren Verwertbarkeit der Kinder stehen. Die wichtigste Aufgabe von Erziehung und damit des Kita- und Schulwesens besteht in unserem System darin, Kinder durch Wissen, Rollenverhalten, schichtspezifischen Habitus und individuelle „Leistungsfähigkeit“ in der Marktgesellschaft wettbewerbsfähig zu machen. Daher sorgt sich die Erwachsenenwelt hauptsächlich um Aspekte wie Bildung, Ausbildung, Wissen, Ökonomie, Sachlichkeit, Wettbewerbs- und Arbeitsfähigkeit. Die erfolgreiche Dominanz Deutschlands auf dem Weltmarkt steht in direktem Zusammenhang mit dieser Zurichtung, die mit verbreiteter emotionaler Armut und Empathielosigkeit Kindern gegenüber einhergeht. Nun, Kinder kennen nichts anderes und Schule ist für sie, wie gerne sie hingehen oder lernen mögen, ein besonders wichtiges soziales Umfeld und das Wegbrechen kann dramatische Konsequenzen nach sich ziehen.

Körperliche, sexuelle und geistige Gewalt sind auch ohne Corona ein weitverbreitetes strukturelles Übel in unserer Gesellschaft. Das Leben mit Corona hat den emotionalen Zustand viele Kinder und Jugendlichen verschlechtert. Die häusliche Isolierung führt auch dazu, dass psychische Auffälligkeiten und Anzeichen körperlicher Gewalt stärker verborgen bleiben. Berichte von Ärzt*innen und die dramatisch gewachsene Zahl an Notrufen sind jedoch deutliche Indizien für die Verschlechterung. Durch die große Anspannung, Herausforderungen und Überlastungen während der Lockdowns sind viele bisher nicht betroffene Kinder nun auch Formen von Streit bis hin zur blanken Gewalt ausgesetzt. Ohne Kita, Schule und Treffen untereinander können sich gerade diejenigen Kinder nicht von ihrem Zuhause erholen, für die es am dringlichsten wäre.

Wie sehr Kinder unter der Situation leiden, hat nun die gerade veröffentlichte COPSY-Studie des Universitätsklinikums Eppendorf (UKE) in Hamburg über die Auswirkungen der Corona-Epidemie auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen gezeigt. Es ist sehr erfreulich, dass in nahezu allen Medien an prominenter Stelle über diese berichtet wurde. Ebenso freut mich, dass in der Studie Kinder und Jugendliche selbst über ihre Ängste und Sorgen Auskunft geben und deutlich wird, wie sehr sie unter den aktuellen Bedingungen leiden. Dazu Prof. Ravens-Sieberer:

Wir haben mit einer Verschlechterung des psychischen Wohlbefindens in der Krise gerechnet. Dass sie allerdings so deutlich ausfällt, hat auch uns überrascht.

Pressemitteilung: Psychische Gesundheit von Kindern hat sich während der Corona-Pandemie verschlechtert

Aus der Studie geht hervor, dass die psychischen Auffälligkeiten von an sich schon sehr hohen 18 Prozent auf 31 Prozent angestiegen sind. „Die Kinder und Jugendlichen machen sich mehr Sorgen und zeigen häufiger Auffälligkeiten wie Hyperaktivität (24 Prozent), emotionale Probleme (21 Prozent) und Verhaltensprobleme (19 Prozent). Auch psychosomatische Beschwerden treten während der Corona-Krise vermehrt auf. Neben Gereiztheit (54 Prozent) und Einschlafproblemen (44 Prozent) sind das beispielsweise Kopf- und Bauchschmerzen (40 bzw. 31 Prozent).

Weiter heißt es:

„Auch bei Themen wie Schule, Familie oder Freunde zeigten sich in der Corona-Zeit auffällige Veränderungen: Für zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen sind die Schule und das Lernen anstrengender als vor Corona. Sie haben Probleme, den schulischen Alltag zu bewältigen und empfinden diesen teilweise als extrem belastend.“

Pressemitteilung: Psychische Gesundheit von Kindern hat sich während der Corona-Pandemie verschlechtert

Die Pandemie macht die strukturellen Begrenzungen dieser Gesellschaft für nötige und sinnvolle Veränderungen deutlich, die es den Menschen ermöglichen würden, ohne Gewalt, Stress, Konkurrenz, Existenzangst ein gutes Leben zu führen. Unsere Gesellschaftsform ist durch jeweils beschränkte Zuständigkeiten und Verantwortungsbereiche geprägt, die lediglich durch ein komplexes System von rechtlichen und marktförmigen Beziehungen miteinander verknüpft sind. Ob Familie, Schule, Behörden, Betriebe etc., sie alle sind praktisch voneinander getrennte autonome Einheiten. Wenn schon zum Beispiel weder Eltern, Schulen, Behörden und Poltiker*innen unter normalen Umständen nicht in der Lage sind, für zumutbare Toiletten, kleinere Klassenstärken, angemessene und lüftbare Räumlichkeiten an Schulen zu sorgen, wie sollen sie erst in Krisenzeiten sinnvolle gemeinsame Absprachen treffen, Aktionen planen und praktische Veränderungen vornehmen können?

Dementsprechend Fantasie-, Empathie- und Kreativitätslos fallen die meisten Maßnahmen gegen die Pandemie aus. Auch ohne den bitter nötigen Systemwechsel ließe sich zurzeit sehr viel mehr für das Wohl von Eltern und Kinder tun, wenn es in den Mittelpunkt der Krisenbewältigung gerückt würde. Dazu gehört vor allem, Kindern und Jugendlichen das Zusammenkommen zu ermöglichen. Das geht nicht nur in den Schulen, Kitas und Freizeiteinrichtungen, sondern in unzähligen Räumen, die fast ständig ungenutzt sind. Betriebe, Hotels, Kirchen, Vereine etc. verfügen darüber. Freie Rasenflächen und Plätze gibt es im Überfluss. Sie werden üblicherweise, weil sie Privateigentum sind und niemand haften möchte, Kindern und Jugendlichen verwehrt. Ebenso mangelt es nicht an Transportmitteln, um Kinder und Jugendliche mit dem notwendigen pyhsischen Abstand zu Schule und Treffen zu transportieren. Es können mehr gemeinsame Aktivitäten im Freien und in entsprechenden Einrichtungen organisiert werden, die nicht nur das Lernen betreffen. Erwachsene, die keiner Erwerbsarbeit nachgehen müssen, könnten zu mehreren, soweit erforderlich, die Aufsicht führen.

Dafür müssten einige wichtige Voraussetzung geschaffen werden: Kostenloser und ausreichender Zugang zu Masken und Schutzausrüstung. Auch wenn sie Schei… aussehen, es gibt einfache Schutzanzüge, die jede und jeder auch zum Spielen und für andere gemeinsamen Aktivitäten problemlos tragen können. Damit wäre zumindest auch begrenzter körperlichen Kontakt möglich. Gute Lüftungssystem für geschlossene Räume sind längst verfügbar. Erzieher*innen, Betreuer*innen und Lehrer*innen sollten zusammen mit den älteren Menschen, dem Gesundheitspersonal und gesundheitlich besonders gefährdeten Menschen Impfpriorität erhalten. Ebenso müssten Corona-Tests alltäglich, kostenlos und überall ermöglicht werden. Vieles könnten Gesundheitsinitiativen auf nachbarschaftlicher Ebene mit etwas Schulung übernehmen. Es geht viel mehr gemeinsam, als sich die meisten geplagten Bürger*innen in ihrer prinzipiellen Vereinzelung vorstellen.

Die Politik macht derweil, was sie am besten kann: Sich über Geldverteilung streiten. Lösungen für nennenswerte übergreifende Probleme kann und will sie nicht anbieten. Wenn es ein Tabu gibt, dann ist es der freie Zugriff auf stoffliche und geistige Ressourcen, die sich in privatem und staatlichen Eigentum befinden. Selbst in den schlimmsten Krisenzeiten bleiben sie den gesellschaftlichen Gruppen verwehrt, die sie dringend für nachhaltige und nützliche Lösungen benötigen. Allerdings ließe sich die Mittelverteilung in der Pandemie, zumindest jetzt, nach anderen Kriterien bestimmen. Statt die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie durch gigantische Subventionsmittel abzufedern, sollten die Ressourcen für präventive Maßnahmen eingesetzt werden: Die Produktion von Schutzmitteln aller Art, Impfstoffe, Corona-Tests, gesundheitliche Schulungen von Bürger*innen und deren kostenlose Verteilung. Dazu würde auch eine jugendgerechte mediale Aufklärung über die Auswirkungen von Corona auch bei jungen Menschen gehören, statt nur nüchtern und sachlich täglich Zahlen und Statistiken zu übermitteln. Vor allem sollen Kinder und Jugendliche wieder aus dem Haus herauskommen und sich in Kita, Schule und alten und neu geschaffenen Freizeiteinrichtungen gemeinsam treffen können.

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