Was wollen wir mit unserer Lebenszeit anfangen? Arbeiten? Muss man ja, also besser nicht hinterfragen. Dem YouTube-Format „Dinge erklärt – Kurzgesagt“ misslingt die Antwort deshalb gewaltig. Wie ein Arbeitsethos unser Leben bestimmt.
Eine gute Idee, für diese Frage zu sensibilisieren. Denn jede Person sollte ab und an vom Alltag zurücktreten und den Sinnzusammenhang betrachten, in dem einzelne Erlebnisse stehen. Ist es gut und richtig, was ich tue? Aber auch auf gesellschaftlicher Ebene gibt es angesichts regelmäßiger Krisen Debatten darüber, wie wir weiterleben wollen. Dabei nehmen die Stimmen zu, die einem „Weiter so“ skeptisch gegenüberstehen.
Das öffentlich-rechtliche Online-Format funk behandelt das Thema in einem YouTube-Video: Was machst du mit deinem Leben?
Doch dabei vermittelt das Video höchst problematische Wertvorstellungen.
Angenommen, ein Mensch würde 100 Jahre alt, so stehen ihm 5200 Wochen zur Verfügung. Die ersten 1000 Wochen, die dieser Mensch als Kind und Teenager verbracht hat, beurteilt der Sprecher des Videos in väterlich jovialem Tonfall so: „In dieser Zeit hast du der Gesellschaft nicht sehr viel gebracht.“ Bitte, was?! Ob Eltern das Leben ihrer Kinder ähnlich wertlos einschätzen?
Die Perspektive, die dieses Zitat schamlos formuliert, zieht sich durch das gesamte Video: Wertvoll ist ein Mensch demnach nur dann, wenn er zur ökonomischen Wertschöpfung beiträgt. Nur wer arbeitet, ist ein gutes Mitglied der Gesellschaft, ein „funktionierender Mensch“.
„Hast du einen Beruf gelernt oder musst arbeiten, um dich und andere durchzufüttern, beginnt der Ernst des Lebens etwas früher.“ Arbeiten, um andere (die nicht arbeiten) durchzufüttern – darin bestehe der Ernst des Lebens. Wer studiert, tue das nur, um diesen Ernst nach hinten aufzuschieben.
Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen
„Die meisten steigen aber zwischen 20 und 30 in einen Beruf ein. Damit fängt endgültig der für die Gesellschaft produktive, aber auch potenziell zermürbende Teil deines Lebens an.“ Moment mal – das einzige, was anscheinend gesellschaftlich wertvoll ist (Arbeit), ist gleichzeitig zermürbend? Muss das so sein? Schließlich ist es kein Naturzustand, dass die einen Menschen vor lauter Arbeit an Burn-Out leiden, während die anderen sich in prekären Jobs abmühen oder mit dem Stigma der Arbeitslosigkeit kämpfen. Und ist der konkrete Inhalt der Arbeit eigentlich gleichgültig? Ist die Abteilungsleiterin im Rüstungskonzern produktiver als der Altenpfleger im Seniorenheim? Hier könnte das Video ansetzen und die moderne Form der Arbeit an sich kategorisch hinterfragen. So könnte die Geschichte ebenfalls zur Erkenntnis gelangen, dass es nicht nur am Gelderwerb hängt, ob ein Mensch von seinen Mitmenschen wertgeschätzt wird.
Stattdessen empfiehlt das Video angesichts des vermeintlichen Dilemmas, „dass du mindestens 2000 Wochen deines Lebens ernsthaft und ganz erwachsen arbeitest. Hoffentlich in einem Job, der dir gefällt, in dem du dich wertgeschätzt fühlst oder mit dem du die Welt ein bisschen besser machst.“ Das lässt sich so verstehen: Wenn du schon arbeiten musst (und du musst!), dann such‘ dir einen Job, der Spaß macht. Doch selbst die wenigen, denen es gelingt, im Beruf Erfüllung zu finden – wirklich frei sind auch sie nicht.
Halten wir fest: Es geht nur über Arbeit. Um es mit den Worten von Franz Müntefering auf den Punkt zu bringen: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“ Seinerzeit war Müntefering Arbeitsminister der sozialdemokratischen Arbeiterpartei.
Interessant, dass sich das Video schnell dem Rentenalter zuwendet, jenem Fluchtpunkt, auf den das Erwerbsleben ausgerichtet ist. „Wenn du dir den Ruhestand leisten kannst, hast du jetzt die Freiheit zu tun und lassen, was du willst.“
Die meisten Menschen werden keine 100 Jahre alt, wie es das Video vorrechnet, aber „wenn du mit 80 stirbst, was immer noch ein gutes Alter ist, hast du nach deinem Ruhestand noch 780 Wochen Freiheit.“ Die Formulierung erkennt an, dass die berufstätige Zeit zuvor wesentlich durch Unfreiheit gekennzeichnet ist. Und auch die neuerlangte Freiheit steht ganz unter dem Vorbehalt der Finanzierbarkeit. Ungenannt sind diejenigen, die sich unter prekären Bedingungen auch im hohen Alter noch ein Zubrot verdienen müssen.
Das Video erkennt zwar an, dass nicht alle Menschen dieses Alter erreichen, bzw. es lediglich mit gesundheitlichen Einschränkungen erreichen. Doch das Plädoyer liegt am Ende nicht darin, Arbeit als lebensstrukturierendes Moment zu hinterfragen. Stattdessen steht der vage Aufruf zu mehr Achtsamkeit und Selbstoptimierung innerhalb des vorgegebenen Rahmens. Der gesellschaftliche Rahmen wird nicht einmal mitgedacht, geschweige denn kritisiert. Die Last liegt allein auf den Individuen, die die Vereinzelung in unserer Gesellschaft hervorbringt. Dieses Video trägt seinen Teil dazu bei.
Von denen lernen, die nicht mehr viel Zeit haben
Um den ideologischen Verkrustungen der Redakteurinnen und Redakteure von funk etwas entgegenzusetzen, soll die Palliativkrankenschwester Bronnie Ware zu Wort kommen, die ihre Erfahrungen im Buch „5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen“ verarbeitet.
Zu diesen Dingen gehört, und das ist bemerkenswert: „Ich wünschte ich hätte nicht so viel gearbeitet.“
Dieses Bedauern wurde von allen Männern geäußert, die Bronnie Ware im Laufe ihrer Zeit als Krankenschwester gepflegt hat. Doch unabhängig davon, ob sie für mehr Status, die Karriere oder mehr Geld gearbeitet haben, am Ende ihres Lebens wünschten sich diese Männer, sie hätten weniger auf die Arbeit fokussiert und mehr auf das Leben.
Quelle: gluecksdetektiv.de
Doch Vorsicht vor Anleitungen der Glücksratgeberliteratur. Hier fällt der Blick ausschließlich auf das Individuum und seinen Handlungsspielraum. Es darf jedoch nicht sein, dass Einzelne ihren Wunsch etwa nach Arbeitszeitverkürzung gegen ihre Kolleg*innen durchsetzen, also auf Kosten der Anderen. Eine ungewohnte aber umso wertvollere Perspektive bietet sich, wenn wir Arbeit als gesellschaftliches Phänomen betrachten und nicht als Naturnotwendigkeit. Sie ermöglicht es, gemeinsam mit unseren Kolleg*innen die arbeitsbezogenen Zwänge zu hinterfragen, die auf gesellschaftlicher Ebene entstehen und die auch Arbeitgeber*innen nur vollstrecken. So lässt sich gemeinsam bspw. für eine generelle Arbeitszeitverkürzung eintreten.
Ist unsere Gesellschaft nicht bereits produktiv genug, um mit wenig Arbeitsaufwand ausreichend viele Dinge herzustellen, die wir benötigen, damit alle Menschen ein gutes Leben führen können? Welche Tätigkeiten sind gehaltvoll, auf welche sollten wir verzichten? Auf dieser Grundlage könnten wir wahrhaft frei über individuelle Erfüllung nachdenken und darüber, was wir mit unserer Lebenszeit anfangen wollen.