Graffito auf einer Mauerzeile in Hannover Foto: WIlfried Jannack

Arbeit und die Suche nach einem tragbaren Lebensstil

Die Hannoversche Initiative Tragbarer Lebensstil lud anlässlich des weltweiten Klimastreiks am 23.9.2019 zu einer Informations- und Diskussionsveranstaltung zu ver.di in Hannover ein. Diese Veranstaltung wurde aufgezeichnet. Wer möchte, kann die Veranstaltung hier anschauen:

Erster Schwerpunkt des Abends war ein Vortrag des Politologen Ulrich Brand von der Uni Wien (Co-Autor des Buches Imperiale Lebensweise (2017)). Anschließend wurden Tobi Rosswog, Aktivist und Autor des Buches AfterWork, die Betriebsratsvorsitzende von VW Hannover, Bertina Murkovic, der Primark-Betriebsrat Uwe Brakhahn sowie Flora Marx und Michael Nagel von den Fridays und Students for Future einbezogen. Lisa Palm, Johannes Katzan und Zorah Birnbacher von der Initiative Tragbarer Lebensstil moderierten die Veranstaltung.

Brand gelang es, den Bogen von den Arbeitnehmer*innen zur Klimabewegung zu schlagen. Die Organisator*innen kriegten in gewisser Weise eine Quadratur des Kreises hin, indem sie die ganz unterschiedlichen Vorstellungen z.B. zur Arbeit aus den Diskutant*innen herauslockten und zusammenzuhielten. (Die Statements der Forums-Teilnehmer*innen sind im folgenden sinngemäß niedergeschrieben.)

Statements zur Arbeit

Michael Nagel (Students for future): „Wir arbeiten im Moment 12 Stunden am Tag für die Demo und das Klimacamp und dann kommt da einer vorbei und sagt: Geht doch erstmal arbeiten! Was wird eigentlich als Arbeit angesehen? Die Erwerbsarbeit wird sakrilisiert.“ (Minute 57:30 auf dem Veranstaltungsvideo)

Bertina Murkovic (Betriebsratsvorsitzende VW Nutzfahrzeuge) tritt ein für Normalarbeitsverhältnisse mit Tarifverträgen. Das erreicht man nur mit einer Organisationsmacht von 97%. „Das Unternehmen muss Gewinne machen, um Arbeitsplätze zu sichern.“ (49:10)

Tobias Rosswog (Verfasser von AfterWork) arbeitet als Aktivist und in seiner Gemeinschaft. Er versucht eine Utopie konkret zu leben. Die Produktion soll sich nach Bedürfnissen und Fähigkeiten richten. „Ich habe kein eigenes Konto und kein eigenes Geld“. Er kritisiert an der Erwerbsarbeit dieses „Hauptsache es gibt Arbeitsplätze“ und spielt auf Bullshit-Jobs an. Das sind Arbeiten, die man macht, weil sie einem das Geld verschaffen, mit dem man im Kapitalismus leben kann, die man aber selber für nutzlos ansieht. (40:10)

Uwe Brakhahn (Betriebsrat bei Primark Hannover): „Wir wollten erstmal unsere Arbeitsbedingungen verändern, deshalb haben wir einen Betriebsrat gewählt“, den es vorher nicht gab. Später haben sie als Betriebsrat Näherinnen aus Bangladesh eingeladen, um sich deren Arbeitsbedingungen schildern zu lassen. (50:50, 53:00)

Ulrich Brand (Vortragender an dem Abend, Politologe in Wien) spricht auch die Sorgearbeit an. „Die Arbeit, die kostenlos gemacht wird, vor allem von Frauen“. Nach seiner Meinung gibt es in der Gesellschaft zwei Unterordnungsaspekte: Geldökonomie steht vor Sorgeökonomie, Lohnarbeit steht vor Sorgearbeit (= Care)

Zwei Kämpfer*innen: ‚Für ehrliche Lohnarbeit‘ versus ‚Gegen ein Leben in Lohnarbeit‘

Die Gegenpole sind die Betriebsrätin Murkovic und der Aktivisten Rosswog, der ohne Lohnarbeit auskommt. Die beiden sitzen nebeneinander und fallen sich trotzdem nicht ins Wort und auch nicht übereinander her.

Bertina Murkovic ist eine Kämpferin: ‚Gastarbeiter‘*innen-Kind aus Duisburg, gewerkschaftlich sozialisiert durch den Kampf um die 35-Stunden-Woche in den 80er Jahren, Studium, erste Betriebsrätin bei VW. In den 90ern hat Bertina Murkovic Germanistik und Soziologie an der Uni Hannover studiert, was nur ging, weil sie von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung gefördert wurde. Sie sagt: „Als studentische Tutorin habe ich einen VW-Betriebsrat zum Thema Arbeitszeiten in die Uni eingeladen“. Als der sich von ihr verabschiedet, fragt er: „Wann bist du fertig? Könntest du dir vorstellen, dann zu uns zu kommen?“

Auch Tobi Rosswog ist ein Kämpfer. Ihm musste als Neugeborener ein kiloschwerer Tumor am Steißbein operiert werden. Nach den Prognosen der Ärzte wäre er zeitlebens auf einen Rollstuhl angewiesen. Seine Botschaft an die Gesellschaft ergibt sich daraus: „Wir müssen das Unmögliche probieren, um das Mögliche zu schaffen“. Während des Studiums hat er irgendwann gemerkt, dass er an einer nachhaltigen Welt arbeiten will, und zwar jetzt. Er hat daraufhin 2,5 Jahre komplett ohne Geld gelebt. Heute reist Rosswog reist durch Deutschland und hält ca. 100 Vorträge und Workshops im Jahr. Ist das nicht viel Arbeit und genauso viel Stress wie in einem Arbeitnehmer*innenverhältnis, zum täglichen Broterwerb?

Es soll nun nicht bei Homestories bleiben, sondern um die

Kritik an der Arbeit

gehen.

Als es vor einigen Jahrhunderten mit dem Kapitalismus begann, „steckte (das Arbeitsvermögen) zunächst in untauglichen Körpern“, eingebunden „in traditionelle Lebensformen und Gewohnheiten“, schreibt Götz Eisenberg. Dagegen wurde etwas getan:

„Es begann im 16. und 17. Jahrhundert damit, dass man gegen die Massen von Bettlern vorging, die der Zerfall der ständisch-feudalen Ordnung hervorgebracht hatte.“ „Der deshalb eingeleitete Feldzug gegen die plebejischen Unterschichten ist, wie Marx schrieb, ‚in die Annalen der Menschheit eingeschrieben mit Zügen von Blut und Feuer‘“ (ebd.: 45).
„In seiner „Utopia“ spricht Thomas Morus von dem sonderbaren Land, wo ‚Schafe die Menschen auffressen‘“ (Fußnote 193 im Kapital I S. 747). Das Land ist England. Bei Morus heißt es, dass „ sich die Edelleute und Standespersonen nicht mehr genügen an den Erträgen und Renten, (….) sie nehmen auch noch das schöne Ackerland weg, zäunen alles als Weiden ein, reißen die Häuser nieder, zerstören die Dörfer, lassen nur die Kirche als Schafstall stehen“ (Utopia (1991, 1516): 35).

Götz Eisenberg: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen, in:

Die Enteignung begann mit der Allmende. Dabei blieb sie nicht stehen. Die Enteignungen sorgten für Gegenwehr. Dazu schreiben Kurz und Trenkle:

„Der Impetus der alten Sozialrevolten bestand darin, dass ihre Träger sich gewissermaßen instinktiv nicht zur ‚Arbeiterklasse‘ eines verselbständigten Systemzusammenhangs machen lassen wollten.“

Norbert Trenkle, Robert Kurz: Die Aufhebung der Arbeit, in: Kurz, Lohoff, Trenkle (Hg.)(1999): Feierabend! 11 Attacken gegen die Arbeit), S. 236

Die ersten Lohnarbeiter*innen wollten eines auf keinen Fall werden: Arbeiter*innen. Sie wollten nicht zur Ware werden. Die Bereitschaft, sich auf dem Arbeitsmarkt feilzubieten, ging den Menschen völlig ab. Den ersten dahin Gezwungenen ist es wie Prostitution vorgekommen. Nach dem Niederschlagen der Sozialrevolten begannen die Arbeiter*innen in England sich zu organisieren (in der Chartisten-Bewegung).

„Die spätere Arbeiterbewegung dagegen operierte nur noch innerhalb dieses Systemzusammenhangs, nachdem er historisch durchgesetzt war“ setzen Kurz und Trenkle ihren Text fort. Durch Kenntnis der alten Sozialrevolten gewinnt man ein Bewusstsein „über das blutige und repressive ‚Gewordensein‘ der heutigen Welt von ‚Arbeitsplätzen‘“, wie Kurz und Trenkle schreiben. ‚Gewordensein‘ bedeutet, dass es vorher anders war. Die scheinbar ewig geltende Kategorie der Lohnarbeit gilt also nicht immer und ewig, sondern ausschließlich im Kapitalismus. Selbst dort gibt es neben der Geldarbeit, deren Systemimperativen man sich unterwerfen soll, noch die unbezahlte Arbeit: die Sorgearbeit. Tobi Rosswog sucht eine Lösung auf Handlungsebene. Damit löst er das Problem in der gesamtgesellschaftlichen Dimension nicht, allerdings bringt Rosswog es zum Vorschein.

Bezahlte Arbeit – unbezahlte Arbeit

In der bestehenden Gesellschaft kann man sich der Lohnarbeit nicht so einfach entziehen. Die Bezahlung der bezahlten Tätigkeit ist Teil des Systemzusammenhanges. Zu diesem Systemzusammenhang gehört aber auch, dass es unbezahlte Tätigkeit gibt. Welche Tendenzen bestehen bezüglich dieses Verhältnisses zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit? Dafür ist es wichtig, beider Ausmaß wenigstens angenähert zur Kenntnis zu nehmen. Also: In welchem Ausmaß gibt es heutzutage diese unbezahlte Tätigkeit, die vor dem Kapitalismus die gesamte Arbeit ausmachte?


Nach dem Statistischen Bundesamt wird mehr als die Hälfte der Arbeiten heute unbezahlt erbracht (Destatis (2015):
Wie die Zeit vergeht

Laut Pressemitteilung Nr. 179 (Stat. BA 18.5.2015) verbrachten „Erwachsene durchschnittlich rund 24,5 Stunden je Woche mit unbezahlter Arbeit und rund 20,5 Stunden mit Erwerbsarbeit.“ Solche Studien können helfen, deutlich zu machen, in welchem Umfang unbezahlte Care- und Reproduktionsarbeiten geleistet werden. Gleichzeitig bleibt die präzisiere Erfassung dieser Tätigkeiten ein schwieriges Unterfangen, da sie sich ihrem Charakter nach der rationalisierten Zeitordnung der kapitalistischen Gesellschaft entziehen. Trotzdem können solche Studien helfen, dass die unbezahlte Arbeit erst ins Bewusstsein gehoben werden muss.

Gabriele Winker zeigte in der Online-Veranstaltung „Revolutionäre Realpolitik für Care und Klima“ (Solidarische Care- Ökonomie am 21.4.2021) an der Veröffentlichung des Statistischen Bundesamts auf, dass auch ein großer Anteil der beruflichen bezahlten Arbeit Care-Arbeit ist, also Sorgearbeit (8% von 44% = 18%): in der Erziehung, in der Bildung, im Gesundheitswesen, in der Pflege. Nebenbei: Man kann festhalten, dass fast 2/3 der geleisteten Tätigkeiten zur Care-Arbeit zählen.

Stefan Meretz schreibt:

„Trotz der Dominanz der Geldvermittlung in der Warengesellschaft werden lange nicht alle gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten auf diese Weise organisiert.“ Allerdings: „Immer mehr gesellschaftlich notwendige nützliche Tätigkeiten (…) vermitteln sich über Geld“.

Stefan Meretz: Kategoriale Grundlagen einer postmonetären Gesellschaft. In: Projektgruppe „Gesellschaft nach dem Geld“ (2019): Postmonetär denken: 274

Die Kommodifizierung auch des unbezahlten Bereichs nimmt zu. Kommodifizierung? Das ist das „zur Ware machen“ von etwas, das bisher nicht geldvermittelt gemacht wird, also dem Warenkosmos entzogen ist. Es wird immer mehr unbezahlte Arbeit in bezahlte umgewandelt.

Leben in der Lieferkette

Die Umwandlung von vielfältigen Tätigkeiten in bezahlte Arbeit hat in Europa vor mehreren Jahrhunderten begonnen. In Südostasien geschieht das jetzt, also 200 bis 300 Jahre später und mit großer Wucht.

Bei der Online-Veranstaltung Lieferkettengesetz und jetzt?“ der Ini Tragbarer Lebensstil am 14.4.2021 macht Thomas Rudhof-Seibert von medico international deutlich, wie sich die Situation in Bangladesch und Pakistan darstellt: Jeder Arbeitsplatz wird als Glück aufgefasst. Karatschi sei von 0,6 Mio. Einwohnern in den 50er Jahren auf 20 Mio. heute angewachsen (im Schnitt 5% peo Jahr). Dadurch sei jeder Elendsjob ein Hauptgewinn. Das Einkommen läge am Rande des Existenzminimums. Das heißt, es wird an 6 Tagen in der Woche 10 bis 14 Stunden gearbeitet bei völligem Ausgeliefertsein. Mittlerweile kommt eine Arbeiter*in auf ca. 3 Dollar am Tag. Die Jahr für Jahr verrichtete Arbeit sorge dafür, dass man in den 40er Lebensjahren körperlich am Ende sei. Nur ca. 1% der Arbeiter*innen ist organisiert.

Die von Uwe Brakhahn (Betriebsrat Primark) mitorganisierte Veranstaltung mit Näherinnen aus Bangladesch, die am 23.9.2019 auf der Informations- und Diskussionsveranstaltung der Ini Tragbarer Lebensstil zur Sprache kam, schlägt den Bogen von miesen Arbeitsbedingungen in den industrialisierten Ländern (bei Primark gab es anfangs Mindestlohn) hin zu den miesen Bedingungen in Pakistan und Bangladesch und darüber hinaus.

Wie prekär die Situation hier ist, wird deutlich aus neuesten Infos der Ini Tragbarer Lebensstil: Im April 2021 fand eine Güteverhandlung vor dem Arbeitsgericht statt, weil Primark den Betriebsratsvorsitzende Ralf Sander gekündigt hat. Zu der Demo gegen dieses Union-Busting hat die Ini aufgerufen.

Raus aus der abstrakten Arbeit

„Für uns heute kommt es darauf an, das kategoriale Gefängnis dieses Systemzusammenhangs zu sprengen und wieder aus der abstrakten Arbeit herauszukommen“, so schrieben Robert Kurz und Norbert Trenkle vor ca. 20 Jahren. Das Aufkommen der Klimabewegung hat bis heute noch keine Sprengung des Gefängnisses erbracht. Debatten darüber, wie es gehen könnte, werden erfreulicherweise an vielen Stellen geführt. Ich bitte nachzusehen, dass die Aufzählung nicht vollständig sein kann. Weitere Ansätze könnt ihr uns gerne in die Kommentare schreiben.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert