Krieg in der Ukraine

Ukraine: Ideologie oder Interessenpolitik?

Am 24. Februar 2022 greift das russische Militär die Ukraine an. Die Welt hält den Atem an. Bei vielen macht sich das Gefühl breit, dass am Ende dieser Entwicklung die Welt eine andere sein könnte. Vergleiche mit 9/11 werden gezogen und wie schon damals ist sich die politische Linke als Bewegung nicht so recht im Klaren darüber, wie sie die Situation einordnen und was sie für Folgerungen daraus ziehen soll.

Welche Interessen?

Zunächst einmal drängt sich der Gedanke auf, dass Staaten halt Kriege führen, weil sie in einer auf Konkurrenz ausgerichteten Ökonomie strukturell nicht befreundet, sondern befeindet sind. So formuliert etwa ein Aufruf zur „Demonstration gegen Krieg, Grenzen und Imperien“ von der Basisdemokratischen Linken in Göttingen:

„Kriege haben Gründe, diese Gründe hängen zusammen mit staatlich-wirtschaftlichen Interessen und diese Interessen mit dem kapitalistischen System, das alle Lebensbereiche durchdringt.“

Ganz in diesem Sinne wird das Verhalten Putins als Ausdruck eines russischen Imperialismus gedeutet. Welche Interessen das allerdings sein sollen, denen Putin da nachgeht – darüber schweigen die Autor:innen des Aufrufes sich leider aus.

Auch das Verhalten der NATO wird in diesem Sinne als Interessenpolitik gewertet. So schreiben die Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken und die DIDF-Jugend in einer gemeinsamen Stellungnahme:

„Russland ist der Aggressor in diesem Krieg, daran besteht kein Zweifel. Leiden müssen in jedem Fall die Menschen in der Ukraine: Vom Westen mit leeren Versprechungen, großen Worten und Guerilla-Waffen ausgestattet, sollen sie Russland nun in einen blutigen Abnutzungskrieg verwickeln, den sie nicht gewinnen können – angetrieben von der vergeblichen Hoffnung, doch noch unterstützt und in die westliche Staatengemeinschaft aufgenommen zu werden. Während Russland ohne Rücksicht auf zivile Verluste in diesen Krieg eingestiegen ist, wird die NATO versuchen, die russischen Verluste zu erhöhen und die eigenen Kosten zu minimieren.“

SJD – Die Falken/DIDF-Jugend

Dass die Aggression von Russland ausgeht ist hier, wie in den meisten bislang einsehbaren linken Stellungnahmen, durchaus anerkannt. Trotzdem soll dem von Putin erklärten Counterpart Russlands, der NATO, auch ein finsteres Interesse unterstellt werden. Was genau das sein soll, wird nicht gesagt. Aber es wird geraunt davon, dass Russland „in einen blutigen Abnutzungskrieg“ verwickelt werden solle – ganz so als habe die NATO ein Interesse daran, Russland auf diese Weise zu schaden. Gesagt wird das nicht – und trotzdem schwingt es im Text mit. Wie genau dieses Interesse beschaffen sein soll, bleibt im weiteren Verlauf der Stellungnahme dann auch im Dunkeln.

Dementsprechend fallen am Ende auch die realpolitischen Forderungen aus. Die Aufnahme von Flüchtlingen sei wichtig und zu fordern. Waffenlieferungen oder militärische Unterstützung für die bedrohte Bevölkerung hingegen seien falsch. 

„Was nicht hilft, sind neue Waffen und Anfeuerungen, sich für den Westen in den Tod zu stürzen. Wer aber im Namen der vermeintlichen Freiheit ein direktes Eingreifen der NATO fordert, muss begreifen, dass diese weitere Eskalation nur zu einer Ausweitung des Krieges führt. Wie in jedem Krieg wird auch hier die Bevölkerung in jedem Fall verlieren.“

Diese Position hat freilich ebenfalls einen Pferdefuß. Denn schließlich verbessert sich die Situation der Menschen in der Ukraine nicht dadurch, dass ihnen keinerlei Waffen geliefert werden. Der Hinweis darauf, dass die Menschen am Ende ohnehin verlieren, wird dann zu einem zynischen Kommentar von einer linken Opposition, die jede Einflussnahme auf gesellschaftliche Entwicklungen ohnehin aufgegeben hat.

Gegen (die Nutzung des) Imperialismus (Begriffs)

Die Deutung des Konflikts als „Imperialismus“ legt jedoch an mindestens drei Punkten eine falsche Sicht auf den Gegenstand nahe:

Das erste Problem liegt darin, dass der Begriff des Imperialismus aus der Aufstiegsphase des Kapitalismus stammt. Er benennt eine politische Praxis die systemimmanent begründet darauf rechnen kann, im Rahmen einer allgemeinen Ausdehnung warenproduzierender Verhältnisse ein Stück vom Kuchen abzubekommen. Heute ist die Lage da aber nicht mehr so einfach und eindeutig, weil die Weltökonomie deutliche Verschiebungen hinter sich hat und sich weder so übersichtlich noch so entwicklungsfreudig zeigt wie zu imperialen Zeiten.

Darüber hinaus legt der Begriff die Vorstellung nahe, das Handeln der herrschenden globalen Akteur:innen („Staaten“) gehe im wesentlichen in einer Ausweitung ihrer Herrschaftssphäre auf. Das mag in der Frühphase des Kapitalismus noch eine teilweise Berechtigung gehabt haben, insbesondere weil die Spielräume der Ausdehnung kapitalistischer Verhältnisse so groß waren, dass die damit verbundenen Zwänge weniger sichtbar waren. Heute sind die Zwänge jedoch noch viel offensichtlicher (Abhängigkeiten zwischen den Ökonomien der beiden „Blöcke“ etc.), während sich zugleich real-ökonomische Notwendigkeiten und ideologische Begründung ein gutes Stück gegeneinander verselbständigt haben.

Das führt uns zu einem dritten Problem: Staaten agieren nicht nur aufgrund materieller Interessen, sondern durchaus auch aufgrund ideologischer Erzählungen. Und das Moment der Ideologie scheint in diesem Fall tatsächlich zu überwiegen. Die „fundamentalen Bedrohungen“, von denen Putin faselt, haben nichts mit realen politischen oder militärischen Entwicklungen zu tun. Ob es sich dabei nun um eine narzisstische Kränkung handelt, weil Putin (und/oder Teile der russischen Öffentlichkeit) dem verblichenen Status als Weltmacht hinterhertrauern oder ob Putin sein Regime in einer prekären innenpolitischen Situation durch die Schaffung eines gemeinsames Feindes stabilisieren will mögen andere entscheiden. Aber klar scheint doch zumindest, dass die Frage der Ideologie hier eine zentrale Bedeutung, die der rationalen Interessenverfolgung hingegen eine vergleichsweise wenig Relevanz haben dürfte.

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