Rob Wallace nennt sich selbst „politischer Virologe“. Der Biologe forscht in einem wissenschaftlichen Zusammenhang, der die polit-ökonomischen Bedingungen von Zoonosen und Pandemien erforschen will. Auf seine Aufsatzsammlung „Was Covid-19 mit der ökologischen Krise, dem Raubbau an der Natur und dem Agrobusiness zu tun hat“ haben wir hier bereits aufmerksam gemacht. In einem sehr lesenswerten aktuellen Interview im Freitag fasst er seine Thesen zum Ursprung des Virus noch einmal zusammen. Diesen Ursprung findet Wallace im kapitalistischen Naturmanagement:
Die marktorientierte Landwirtschaft und Konzerne dringen in die letzten Urwälder vor. Mehr als 60 Prozent der neuen humanen Erreger stammen von Wildtieren. Komplexe Ökosysteme wie Regenwälder halten solche Viren in Schach und begrenzen ihre Ausbreitung. Wird Biodiversität vernichtet, springen Erreger auf Menschen und Nutztiere vor Ort über. Von dort gelangen sie in das globale Reisenetzwerk und in kurzer Zeit von einer Höhle in China nach Miami Beach. Es sind globale Kapital- und Warenströme, die die Entwaldung, die industrielle Landwirtschaft und Fleischproduktion vorantreiben – und damit die Entstehung neuer Krankheiten.
Interview mit Rob Wallace
Dass der Kapitalismus sich stetig ausbreitet, ist nun sicherlich nichts Neues. In Bezug auf die konkreten Verlaufsformen diverser Epidemien hält Wallace jedoch fest, dass diese ihren Ursprung in der Finanzialisierung des Kapitalismus haben. Wie Ernst Lohoff und Norbert Trenkle in ihrer Untersuchung „Die große Entwertung“ gezeigt haben, hat sich das fiktive Kapital in den größten Wachstumsmotor des Kapitalismus verwandelt. Und so verwundert es nicht, wenn Wallace die Entstehungsbedingungen der vom Profitmotiv hervorgebrachten Zurückdrängung der Natur in der Akkumulation des Fiktiven Kapitals findet. Denn die Vermehrung des fiktiven Kapitals bedarf immer wieder eines realwirtschaftlichen Ankerpunktes. In diesem Fall, so Wallace, werde damit „die Abholzung und das Agrobusiness” finanziert:
Nehmen Sie die Vogelgrippe. H5N1 tauchte zuerst 1996 in der chinesischen Provinz Guangdong auf. Als es 1997 in Hongkong ausbrach und Menschen starben, war das ein Schock. Es hieß, Hongkong sei das Opfer der Festland-Chinesen, deren Geflügelzucht neue Influenza- und SARS-Stränge hervorgebracht habe. Tatsächlich flossen damals vier Fünftel der ausländischen Direktinvestitionen von Hongkong nach China, auch in die Geflügelmast. Die Produktion von Geflügelfleisch ist dort seit 1985 von 1,7 Millionen auf 13 Millionen Tonnen pro Jahr gestiegen.
Interview mit Rob Wallace
Auch in Bezug auf Covid-19, so Wallace, seien entsprechende Geldströme nachweisbar:
Nach dem Ausbruch der Wirtschaftskrise 2008 diversifizierten Investmentfirmen ihre Bestände. Goldman Sachs entdeckte den Agrarsektor und übernahm 60 Prozent der Anteile an Shuanghui Development, einem chinesischen Agrarunternehmen. Das hatte Smithfield Foods gekauft, den weltgrößten Schweinefleischproduzenten aus den USA. Umgekehrt kaufte Goldman Sachs Geflügel- und Schweinefarmen in den Nachbarprovinzen von Wuhan. Dort werden Wildtiere, die für die Stadt gefangen werden, gegen Fledermäuse gedrängt, die SARS-Stämme beherbergen. Die globalen Kapitalzyklen spielten eine grundlegende Rolle bei der Veränderung der Ökologien, aus denen die SARS-Stämme hervorgingen.
Interview mit Rob Wallace
Doch auch jenseits der Akkumulation von fiktivem Kapital zeigt sich die Expansionstendenz des Kapitals in ihrer neoliberalen Variante verantwortlich für die Ausbreitung von Viren. Wallace macht dies am Beispiel der Schweinegrippe deutlich, deren Ausbruch 2009 in Mexiko er als „NAFTA-Grippe“ bezeichnet:
1994 öffneten Mexiko und die USA die Grenzen für den Warenverkehr, US-Firmen entsorgten Fleisch auf dem mexikanischen Markt. Das zerstörte lokale Ernährungssysteme und trieb die industrialisierte Landwirtschaft voran. So gelangte H1N1 nach Mexiko City, in die USA und von dort in die ganze Welt.
Interview mit Rob Wallace
Die gleiche Logik vermutet Wallace auch hinter dem Ebolafieber, das ja bereits seit 1976 bekannt ist und dessen Ausbruch 2014 in mehreren westafrikanischen Ländern es bis in die europäischen Medien geschafft hat:
Das Virus selbst war unverändert. Aber wie brachte es das Virus, das sonst ein, zwei Dörfer außer Gefecht setzt – was schlimm genug ist – dazu, 35.000 Menschen zu infizieren und 11.000 zu töten? Guinea, Liberia und Sierra Leone, wo Ebola wütete, gehören zu den Ländern, die Strukturanpassungsprogrammen unterworfen wurden. Die zwangen sie, Ausgaben für das Gesundheitssystem zu senken und Ökosysteme für Konzerne zu öffnen. Komplexe Wälder, in denen gefährliche Pathogene eingeschlossen waren, wurden für Monokulturen plattgemacht, etwa von Palmöl. Die wenigen Wirtstiere der Pathogene, die überleben, gedeihen so bestens. Fledermäuse etwa, die Träger des Ebola-Virus. Sie siedeln auf die industriellen Plantagen um, wo es keine Konkurrenz und keine Fressfeinde gibt, vergrößern die Schnittmenge mit den Menschen und treiben die Übertragungsraten in die Höhe.
Interview mit Rob Wallace
Die Kritik am Kapitalismus und dessen Rolle bie der Entstehung von Zoonosen lässt sich also über die allgemeinen Thesen, die wir bislang kennen, noch präzisieren. Hier liegt ein fruchtbares Feld für weitere empirische und theoretische Darstellungen, die noch geleistet werden müssen.