Charles Darwin

Darwin: Der Aufklärer als Ideologe

Am 12. Februar 1809 wurde der britische Naturforscher Charles Darwin geboren. Er gilt als Begründer der Evolutionstheorie und damit als Vorreiter für Wissenschaft und Aufklärung. Darwin, so die allgemeine Auffassung, habe mit Ideologie und überkommenen Vorurteilen gebrochen und setze stattdessen auf strenge wissenschaftliche Faktenprüfung. Ganz in diesem Sinne feiern viele humanistische Organisationen Jahr für Jahr am 12. Februar den Darwin-Tag. Doch ganz so einfach ist es nicht. Wir haben uns umgesehen, um die dunkle Seite des Charles Darwin ans Tageslicht zu befördern.

Es ist eines der zentralen Probleme empirischer Forschung, dass die Fakten, die beobachtet werden, nicht einfach frei zugänglich sind. Ganz im Gegenteil – dazu müssen sie erst „beobachtet“ werden. Und dabei ist es entscheidend, mit welchem „Blick“ sie betrachtet werden. Ganz in diesem Sinne hat der große Königsberger Philosoph Immanuel Kant darauf hingewiesen, dass beispielsweise Zeit und Raum als Rahmen jeder Messung in Stunden und Quadratmetern bereits vorausgehen müssen. Kant freilich hat den Ursprung dieses Rahmens als a priori in die menschliche Natur verlagert. Die Kritische Theorie konnte später zeigen, dass sich darin lediglich die spezifischen Erkenntnisbedingungen der kapitalistischen Gesellschaft spiegeln.

Darwin als liberaler Ideologe

Wie also verhält es sich mit Darwin? Inwiefern hat er bestimmte Vorannahmen bemüht, die dann möglicherweise seinen Blick auf das Forschungsmaterial geprägt haben? Tatsächlich war der Blick von Darwin keineswegs unschuldig. Er hat vielmehr zentral ökonomische Denker des politischen Liberalismus seiner Zeit bemüht, um das Material zu ordnen. So bemerkt etwa der Ökonom Matt Ridley:

On the Beagle, he [Darwin] read the naturalist Henri Milne-Edwards, who took Adam Smith’s notion of the division of labor and applied it to the organs of the body. After seeing a Brazilian rainforest, Darwin promptly reapplied the same idea to the division of labor among specialized species in an ecosystem: “The advantage of diversification in the inhabitants of the same region is in fact the same as that of the physiological division of labor in the organs of the same individual body — subject so well elucidated by Milne-Edwards.

Matt Ridley: What Charles Darwin owes Adam Smith

Halten wir das also fest: Charles Darwin entnimmt seine Vorstellung von den spezifischen Verhältnissen, die die Arten zueinander eingehen, letztlich den Überlegungen des Ökonomen Adam Smith zur kapitalistischen Arbeitsteilung. Und nicht nur Smith stand Pate für Darwin. So plaudert der in seiner Autobiographie ganz ungeniert aus, wie ihn die Überlegungen des britischen Pfarrers und Ökonomen Thomas Malthus beim Verständnis seines Materials geholfen haben.

Nur zu Erinnerung: Malthus war dafür bekannt geworden, dass er das Elend des frühkapitalistischen Englands nicht auf massiven Enteignungen breiter Bevölkerungsschichten zurückführte, sondern als eine Art gottgebenes Naturgesetz interpretierte:

Ein Mensch, der in eine bereits in Besitz genommene Welt geboren wird, und keinen Unterhalt erhält von seinen Eltern, an die er berechtigte Forderungen hat, und dessen Arbeit die Gesellschaft nicht will, hat kein Recht, die kleinste Menge an Nahrung zu beanspruchen, und in der Tat keine Veranlassung da zu sein, wo er ist. An der ungeheueren Festtafel der Natur ist für ihn nicht gedeckt. Sie sagt ihm, er möge sich packen, und wird schnell ihren Befehl verwirklichen, falls er nicht das Mitgefühl einiger ihrer Gäste erwecken kann. Wenn diese Gäste aufstehen und ihm Platz machen, werden sofort andere Eindringlinge erscheinen und denselben Gefallen fordern. (Malthus zit. nach Meek 1956, S. 4)

Robert Malthus: Eine Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz

Malthus hat aus dieser selbstbezüglichen Argumentation geschlossen, dass die Armen wohl selbst an ihrem Elend schuld sein müssten. Er meinte, damit ein schlagendes Argument gegen die britische Armengesetzgebung vorgebracht zu haben. Sein Argument läuft im Kern darauf hinaus, Menschen in Not nicht zu helfen und sie dem Hungertod zu überlassen. Eine wahrhaft christliche Strategie.

Der bereits zitierte Matt Ridley jedenfalls weist darauf hin, dass Darwin den klugen Ideen von Malthus einiges abgewinnen konnte, und er schreibt:

In October 1838, Darwin came to reread Malthus […] and to have his famous insight that death must be a non-random and therefore selective force.

Matt Ridley: What Charles Darwin owes Adam Smith

Der Tod von Menschen als zielgerichtete Selektionsfunktion. Das ist ein starkes Stück und eine gute Begründung, jede noch so ungeheuerliche Schweinerei zu rechtfertigen. Tatsächlich ist der Malthus-Bezug bei Darwin auch keineswegs die rückwirkende Projektion eines neoliberalen Ökonomen, sondern findet sich auch in dessen Autobiographie. Dort schreibt er:

„In October 1838‚ that is‚ fifteen months after I had begun my systematic enquiry‚ I happened to read for amusement Malthus on Population‚ and being well prepared to appreciate the struggle for existence which everywhere goes on from long-continued observation of the habits of animals and plants‚ it at once struck me that under these circumstances favourable variations would tend to be preserved and unfavourable ones to be destroyed. The result of this would be the formation of new species. Here‚ then‚ I had at last got a theory by which to work.

Charles Darwin, zit. n. Ruth Hubbard: Have only Men envolved

Darwin, genau wie Malthus ein ehemaliger Theologie-Student, fand dessen auf Tod oder Leben abzielende Theorie sehr plausibel und versuchte umgehend, diese Logik der gesamten Tier- und Pflanzenwelt unterzuschieben. Insofern beschränkt sich der Humanismus von Darwin darauf, dezidiert menschliche Prinzipien wie die der kapitalistischen Gesellschaftsform auf alle lebenden Wesen zu übertragen. Sogar die für ihn zentrale Begriffe vom struggle for existence und dem survival of the fittest hat er der zeitgenössischen Sozialtheorie entnommen, in diesem Fall dem britischen Philosophen Herbert Spencer.

Smith und Malthus finden also eine recht junge Gesellschaftsform vor, die in ihren zentralen Mechanismen auf einer Vereinzelung der Menschen und ihrer allseitigen Konkurrenz gegeneinander beruht. Sie finden das gut und schreiben Bücher darüber, warum diese Gesellschaft ganz natürlich ist und dem Wesen des Menschen entspricht. Darwin übernimmt diese Darstellung und ihre Bewertung – und überträgt sie gleich auf das gesamte Tierreich. Das ist, wie die Biochemikerin Ruth Hubbard bereits vor vielen Jahren bemerkte, ein klassischer Zirkelschluss:

But not only did Darwin’s interpretation of the history of life on earth fit in well with the social doctrines of nineteenth-century liberalism and individualism. It was used in turn to support them by rendering them aspects of natural law. […] The circle was therefore complete: Darwin consciously borrowed from social theorists such as Malthus and Spencer some of the basic concepts of evolutionary theory. Spencer and others promptly used Darwinism to reinforce these very social theories and in the process bestowed upon them the force of natural law

Ruht Hubbard: Have only Men envolved

Darwin und seine patriarchale Schlagseite

Und es sind nicht nur die Prinzipien der kapitalistischen Ökonomie, die Darwin auf sein Material projiziert. Bereits sehr früh ist ihm von feministischer Seite vorgeworfen worden, dass er die zeitgenössischen Vorstellungen des viktorianischen Zeitalters etwa auf das Paarungsverhalten von Tieren übertragen würde. Oder, in den Worten von Hubbart: „But the very language Darwin uses to describe these behaviors disqualifies him as an ‘objective’ observer. His animals are cast into roles from a Victorian script.“

Frauen tauchen in dieser Sicht nur als Objekte auf, als Ressourcen, um deren Besitz die Männchen kämpfen. Beispielsweise heißt es in der Abstammung der Arten:

Der Mann ist an Körper und Geist kraftvoller als die Frau, und im wilden Zustande hält er diesselbe in einem viel unterwürfigeren Stande der Knechtschaft, als es das Männchen irgend eines anderen Thieres tut; es ist daher nicht überraschend, daß er das Vermögen der Wahl erlangt hat.

Charles Darwin: Die Abstammung der Arten

Ähnliche Zitate finden sich im Werk von Darwin in großer Zahl. Dementsprechend ernüchternd liest sich dann auch der Kommentar der britischen Wissenschaftsjournalistin Angela Saini in einem Interview im National Geographic:

In einem Brief beschrieb er Frauen als den Männern intellektuell unterlegen. Er schaute sich in der viktorianischen Gesellschaft um und sah, dass Frauen nicht so viel erreichten wie Männer, also war seine Schlussfolgerung, dass Frauen einfach nicht die gleichen Kapazitäten und Fähigkeiten haben wie Männer. Dass sie irgendwie unterentwickelt wären. […]

Er untersuchte nicht die Gründe dafür, dass Frauen weniger Leistungen erbrachten. Er kam nicht auf den Gedanken, dass es daran liegen könnte, dass Frauen praktisch nichts tun durften, zumindest im viktorianischen England.

Angela Saini: Wo die Wissenschaft als Männerdomäne versagte

Saini bemerkt zurecht, dass Darwin die gesellschaftliche Bedingtheit von geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen aus seiner Betrachtung ausschließt. Doch damit nicht genug: Er überträgt sie sogar vom viktorianischen England auf die gesamte Evolutionsgeschichte. Und von hier aus machen sich dann aktuelle Ideolog*innen wie der oben zitierte Matt Ridley auf und folgern aus dem gnadenlosen Konkurrenzkampf in der Natur die Notwendigkeit eines ebenso gnadenlosen Konkurrenzkampfes in der Welt der Ökonomie.

Yet, if the market needs no central planner, why should life need an intelligent designer, or vice versa?

Matt Ridley: What Charles Darwin owes Adam Smit

Es braucht kein Intelligent Design, weder für Gesellschaft noch für die natürliche Welt – was für den Autor das gleiche zu sein scheint. Daran schließt dann auch Richard Dawkins an. Der hat die Welt mit seiner Theorie beglückt, Evolution sei durch „egoistische Gene“ entstanden und die dominierten noch heute das menschliche Zivilisationsgeschehen. Die wollen sich und ihr Erbgut weiterverbreiten und so entsteht der ganze Kram mit der Natur und der Gesellschaft. Um nicht falsch verstanden zu werden: alle gesellschaftlichen Phänomene sollen in dieser Tradition durch „egoistische Gene“ erklärt werden.

Auch in Bezug auf Gesellschaft vertritt Dawkins eine Position, die der Vorstellung von der Selbstregulierung autonomer, dem Eigeninteresse dienender Individuen folgt. So schrieb er zur Brexit-Abstimmung in Großbritannien, diese habe nie durchgeführt werden dürfen, weil die Menschen ohnehin nicht genug Einblick in die Ökonomie haben, um sie zu planen (das ist eine Vorstellung, die insbesondere von Friedrich August von Hayek ausgearbeitet wurde). Da könne man ja auch gleich über die Relativitätstheorie abstimmen. Kein Scherz – Dawkins schreibt zum Brexit

You might as well call a nationwide plebiscite to decide whether Einstein got his algebra right, or let passengers vote on which runway the pilot should land on.

Richard Dawkins: We need a new party – the European Party

Dawkins setzt hier Natur und Gesellschaft gleich, oder genauer: er naturalisiert Gesellschaft. Während er in seinen biologischen Schriften in die Natur gesellschaftliche Mechanismen (Konkurrenz, Egoismus) hineinliest. Gesellschaftspolitisch braucht er dann auch keine Demokratie mehr. Unsere „egoistischen Gene“ werden schon wissen, was sie tun. Auf diese Weise wird aber Wissenschaft zur Ideologie. Und Darwin, der Aufklärer wider den Gotteswahn wird zum Wegbereiter für neoliberale Religiosität, verkleidet wie ein Wolf im Schafspelz.

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