Ein Staat mit Doppelcharakter: Israel Pexels

Antisemitismus und Terror

Die Eskalation in Nahost nach dem Angriff der Hamas auf Israel ist in vollem Gange. Es ist absehbar, dass die Folgen der von der Hamas begangenen Pogrome die Weltpolitik für einige Zeit beschäftigen werden. In den aktuellen Auseinandersetzungen fehlt häufig der Blick für die Entstehungsgeschichte des Konfliktes. Darum holen wir in dieser Darstellung etwas weiter aus.

Der Doppelcharakter des Staates Israel

Im Jahr 1948 wurde der Staat Israel gegründet. Er kann (und muss) als Reaktion auf den eliminatorischen Antisemitismus in Europa verstanden werden. Und dieser war und ist eine spezifische Weltanschauung, in der die negativen Folgen der kapitalistischen Gesellschaft und die abstrakte Gewalt dieser Ordnung konkretisiert werden. Die Gewalt, die vom Kapital als einem von den Menschen hervorgebrachten, sich aber ihnen gegenüber verselbstständigenden Prinzip hervorgebracht wird, wird im Antisemitismus in jüdischen Menschen personalisiert. Wie ist das gemeint?

Die kapitalistische Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass hier nicht einfach konkrete Dinge hergestellt und verteilt werden. Vielmehr entsteht im Kapitalismus eine Sphäre abstrakter Vermittlung, die durch das Handeln der Menschen geschaffen wird, die sich ihnen gegenüber aber verselbstständigt und den Menschen als äußerer Zwang gegenübertritt. Diese Sphäre abstrakter Vermittlung nennt Marx “Wert”. Ihre dynamische Verlaufsform, die auf eine immer weiter fortschreitende Unterwerfung der Welt unter die Formprinzipien einer abstrakten Vergesellschaftung abzielt, nennt er “Kapital”. Dieses Kapital ist es dann auch, dem der Kapital-ismus seinen Namen verdankt.

Die abstrakte und die konkrete Seite des Kapitalismus sind dabei jedoch untrennbar miteinander verbunden. Der abstrakte Zweck der Gewinnmaximierung und die zu diesem Zweck verrichtete konkrete Arbeit in der Fabrik lassen sich nur künstlich trennen. Im Antisemitismus erscheinen die konkrete Arbeit und die Fabrik als das Gute, während das Geld und seine Institutionen als das Böse erscheinen:

So kann das industrielle Kapital als direkter Nachfolger ‘natürlicher’ handwerklicher Arbeit auftreten und, im Gegensatz zum ‘parasitären’ Finanzkapital, als ‘organisch’ verwurzelt. Seine Organisation scheint der Zunft verwandt zu sein; der gesellschaftliche Zusammenhang, in dem es sich befindet, wird als eine übergeordnete organische Einheit gefaßt: Gemeinschaft, Volk, Rasse. Kapital selbst – oder das, was als negativer Aspekt des Kapitalismus verstanden wird – wird lediglich in der Erscheinungsform seiner abstrakten Dimension verstanden: als Finanz-und zinstragendes Kapital.”

Moishe Postone: Antisemitsmus und Nationalsozialismus

Auf diese Weise stellt sich der Antisemitismus der Nazis auf die Seite der konkreten Dimension (der “ehrlichen Arbeit”) und kritisiert die abstrakte Dimension des Kapitalismus. Weil er nicht einfach eine beliebig austauschbare Ideologie ist, sondern eine gesellschaftlich vermittelte Denkform, ist er auch nicht an eine bestimmte Phase der kapitalistischen Modernisierung gebunden, sondern stellt (bis heute) ein konstitutives Moment der kapitalistischen Modernisierung dar.

“In demselben Maße, wie die realen Kategorien des „abstrakten Reichtums“ verinnerlicht wurden und als Naturbedingungen erschienen, setzte die moderne antisemitische Ideologiebildung ein, die im Anschluss an die vormodernen christlichen Judenpogrome nunmehr „das Jüdische“ schlechthin verantwortlich machte für die Gewalt der gesellschaftlichen Realabstraktion und die damit verbundenen sozialen Leiden. […] Die antisemitische Projektion machte die Juden als das nicht unterwertige, sondern bedrohlich überwertige „Andere“ zum Abstoßungsobjekt von Nationsbildungen und einer phantasmatisch-aggressiven Interpretation kapitalistischer Modernisierung über Europa hinaus. Gerade deshalb konnte sich der Judenhass im Zuge der Weltmarktentwicklung durch ganz verschiedene kulturelle Kontexte hindurch auch im kollektiven Unbewussten verankern.”

Robert Kurz: Die Kindermörder von Gaza, S. 195f

Jeder Nationalstaat hat eine nationale Erzählung, mit der das Erbe der Nation begründet werden soll. Beim Staat Israel erfüllt der Zionismus diese Aufgabe. Die zionistische Bewegung kam bereits Ende des 19. Jhds. als Reaktion auf den modernen Antisemitismus auf. Mehrheitsfähig innerhalb der jüdischen Community wurde sie dann mit der Shoa. Insofern stellt die Gründung von Israel als einem jüdischen Staat ist nicht zuletzt eine direkte Reaktion auf den eliminatorischen Antisemitismus des Nationalsozialismus dar. Durch letzteren wurde deutlich, dass Jüd:innen in einer kapitalistischen, in konkurrierende Nationalstaaten aufgeteilten Welt eines eigenen Nationalstaates bedürfen, um Schutz finden zu können. Durch diese spezifische Geschichte, die Israel vom gängigen Format des “Nationbuilding” in der kapitalistische Moderne unterscheidet, erhält der jüdische Staat einen Doppelcharakter. Es ist zugleich kapitalistischer Nationalstaat und Zufluchtsort für jüdische Menschen.

“Aufgrund dieser Geschichte ist das Verhältnis der jüdischen Staats- und Nationsbildung zum Kapitalismus objektiv und einschließlich der unbewussten Momente ein gebrochenes. Der Staat Israel gewinnt so einen Doppelcharakter. Er kann einerseits als Staat nur das Kapitalverhältnis reproduzieren wie jeder andere und dessen Widersprüche nach innen und außen durchlaufen; und andererseits repräsentiert er als „Jude unter den Staaten“ den immanenten Gegensatz zum antisemitischen Syndrom der Moderne, auch wenn die Juden selber in ihrer staatlichen Existenz eigentlich nur normal unter Normalen im Sinne kapitalistischer Subjektivität sein wollen. Ihre volle Durchschlagskraft hat diese Staatsbildung in ihrem Doppelcharakter erst durch den Holocaust gewonnen.” 

Robert Kurz: Die Kindermörder von Gaza, S. 196

Diese Bestimmung gilt umso mehr, als der Antisemitismus nicht auf Europa beschränkt blieb. Er wurde bereits früh im Kontext des europäischen (v.a. deutschen) Kolonialismus in der “arabischen Welt” verbreitet. Insbesondere in den 30 Jahren zwischen der Erklärung von Balfour (1917) und der Gründung des Staates Israel (1948) hat sich auch in der arabischen Welt eine antisemitische Ideologie herausgebildet. Zentral hierbei war unter anderem  die Rezeption der antisemitischen Fälschung der “Protokolle der Weisen von Zion”. Diese werden in der Charta der Hamas sogar ausdrücklich erwähnt.

Das ein Element des europäischen Antisemitismus ein einem zentralen Dokument einer fundamentalistischen, islamistischen Organisation auftaucht, ist kein Wunder. Denn es waren deutsche Nationalsozialist:innen, die diese Ideologie exportiert haben. Und auch der NS hat stets intensiven Gebrauch von den Protokollen gemacht.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass Konflikte zwischen dem neu gegründeten Israel und seinen Nachbarstaaten nicht lange auf sich warten ließen. Noch in der Gründungsnacht erklärten sechs arabische Staaten dem jüdischen Staat den Krieg. In den kommenden Jahrzehnten folgten weitere Kriege, in denen einige zusätzliche Gebiete unter israelische Verwaltung fielen (der Gaza-Streifen und die West Bank). 

Im Jahr 2006 zog sich Israel dann aus dem Gazastreifen zurück und übergab das Land der palästinensischen Selbstverwaltung. In einem längeren Bürgerkrieg konnte die Hamas die Macht in der Region an sich reißen und fungiert seitdem als faktische Regierung. 

In der “Charta der Hamas” sind die Ziele dieser Organisation niedergeschrieben. Sie zielt – entgegen einer gängigen Annahme – weder auf den Aufbau eines palästinensischen Staates noch auf eine Verbesserung des Lebens der Menschen, die im Gazastreifen leben. Stattdessen werden der “Kampf mit den Juden” (Zitat aus der Präambel) und die Gründung eines (regional nicht eingegrenzten) Gottesstaates als Ziel der Organisation angegeben. Kompromisse mit nichtmuslimischen Staaten, insbesondere mit Israel, werden von der Hamas kategorisch abgelehnt, denn sie gelten als Verrat am muslimischen Glauben.

Diese Ziele spiegeln sich in der Politik der Organisation. Die Menschen, die im Gazastreifen leben, werden von der Hamas als lebende Schutzschilde benutzt, während die Organisation ihren antisemitischen Vernichtungskrieg gegen Israel führt. Viele Bemühungen um einen Frieden oder um eine wirtschaftliche Stärkung der Gaza-Region sind von der Hamas vereitelt worden. Das beginnt bei landwirtschaftlichen Strukturen, die nach dem Rückzug der Israelis zerstört wurden und endet bei der regelmäßigen Ablehnung von Infrastrukturprojekten.

Während die Hamas die Menschen im Gazastreifen also künstlich arm hält, benutzt sie gleichzeitig ihr Leiden als politische Waffe gegen den Erzfeind Israel. Zentrale organisatorische Stützpunkte werden stets unter Krankenhäuser, Kindergärten oder Schulen gebaut. Die israelische Armee steht dann vor dem Problem, diese entweder unbeschadet zu lassen oder aber sich der Kritik auszusetzen, sie habe Zivilist:innen angegriffen.

Die Verwahrlosung des Kapitals

Seit der Gründung des Staates Israel haben sich die ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen im globalen Kapitalismus mehrfach verschoben. Mit der mikroelektronischen Revolution wurde die Arbeit zunehmend aus dem Mittelpunkt der kapitalistischen Ökonomie verdrängt. Es kam zu einem Aufstieg eines finanzmarktbasierten kapitalistischen Akkumulationsmodells, dass seinerseits viele Anknüpfungspunkte für antisemitische Stereotype ließ.

Dieser Prozess ging einher mit einer zunehmenden Status-Verunsicherung der kapitalistischen Subjekte. Und zwar nicht nur in der kapitalistischen Peripherie. Auch in den Metropolen, im Globalen Norden, macht die individualisierte Furcht vor der eigenen Zukunft die Runde. Das führt zu einer Verstärkung rechtsautoritärer Tendenzen.

Parallel zur neoliberalen (De-) Regulierung der Wirtschaft tritt so die autoritäre Verhärtung staatlicher Macht- und Sicherheitspolitik. Diese führt zu einem zunehmend starken politischen Block, der die liberale Globalisierung und den menschenrechtsbasierten Universalismus der Aufklärung infrage stellt. Allerdings sollen diese Konzepte keineswegs in einer emanzipatorischen Gesellschaft aufgehoben, sondern stattdessen autoritär gewendet werden. Statt eines Kapitalismus mit Menschenrechten droht nun ein Kapitalismus ohne Menschenrechte, statt eines Kapitalismus mit einem westlichen Führungsanspruch und einem demokratischen Ethos droht nun ein Kapitalismus, in dem direkte Gewalt, Ausgrenzung und Klientelpolitik noch weiter nach vorn gerückt werden.

Die Differenzen zum kapitalistischen Normalzustand der 1950er-Jahre sollten dabei nicht unterschätzt werden. Im Fordismus war die kapitalistische Wachstumsmaschine in ihrer goldenen Phase. Das zeigte sich in einer Vorstellung von Entwicklung, die ganz unhinterfragt im Selbstverständnis der kapitalistischen Subjekte verankert war. Dass die Wirtschaft wachsen und das Leben auf lange Sicht von einem zumindest materiell steigenden Reichtum geprägt sein würde, galt den Menschen in den Metropolen als Selbstverständlichkeit. Und so ging es bei den gesellschaftspolitischen Visionen dieser Zeit stets um mehr als nur um die Bereicherung regionaler Eliten. Es ging immer auch um die Durchsetzung einer bestimmten Form von gesellschaftlicher Allgemeinheit und die Etablierung eines funktionierenden Staats- und Wirtschaftsapparates. 

Diese Perspektive wird nun im postfordistischen Kapitalismus zum Auslaufmodell. Rechtsautoritäre Regime zielen nicht einfach nur auf eine autoritäre Formierung. Es soll nicht einfach ein national-ökonomischer Wachstumspfad mit autoritären Mitteln vorangetrieben werden. Stattdessen soll der Reichtum der Gesellschaften, in denen diese Regime sich etablieren können, zur Ausplünderung bereitgestellt werden. Das gilt für rechtspopulistische Regierungen in Russland oder Ungarn ebenso wie für das Regime im Iran. Und es gilt ebenso (und noch viel mehr) für die Hamas. 

Sie kann geradezu als mustergültiges Beispiel für postapokalyptische Zerstörung eines jeden Anspruchs auf gesellschaftliche Integration angesehen werden. Denn ihr Ziel ist ja gerade nicht mehr der Aufbau eines funktionierenden Nationalstaates (auch wenn sie sich auf eine palästinensische Identität beruft), sondern die Etablierung eines postnationalen Gottesstaates. In ihrer praktischen Politik geht es ihr an keiner Stelle um die Etablierung funktionierender ökonomischer, gesellschaftlicher oder politischer Strukturen. 

Stattdessen setzt sie sich sogar aktiv für deren Verhinderung ein. Die Verelendung der breiten Bevölkerung ist das Geschäftsmodell der Hamas. Dass sich dabei ein paar Führungsfiguren bereichern, ist das eine. Der Charakter dieses Regimes als einer despotischen, bösartigen und zutiefst menschenfeindlichen Organisation ist das andere.

Diese allgemeinen weltpolitischen Tendenzen konnten selbstverständlich auch an Israel nicht vorbeigehen. Seit dem Dezember 2022 wird der Staat von einer nationalkonservativen Regierung regiert. Die Zivilbevölkerung ist zerstritten und es gibt viele Demonstrationen gegen aktuelle Regierungsvorhaben. Dies hat auch den israelischen Sicherheitsapparat deutlich geschwächt. Zuletzt haben im Juli zehntausende Reservist:innen erklärt, unter dieser Regierung nicht mehr zum Dienst an der Waffe zur Verfügung zu stehen. So kam es zu einer Situation, in der die israelische Landesverteidigung geschwächt schien.

Der Terror des 7. Oktober

Das ist bei den Feinden Israels nicht unbemerkt geblieben und so kam es am 7. Oktober zu einem koordinierten Angriff auf israelisches Gebiet:

Der Angriff begann mit Raketenbeschuss auf Israel, gefolgt vom Vordringen der Hamas auf israelisches Staatsgebiet nach Überwindung der Sperranlagen um den Gazastreifen. Dabei massakrierten bzw. ermordeten die Hamas und ihre Verbündeten nach israelischen Angaben mindestens 1400 Zivilisten und Soldaten, verletzten 4100 Menschen, und entführten knapp 200 weitere. Es werden außerdem seit den Angriffen mehr als 1000 Menschen in Israel vermisst.

Wikipedia: Terrorangriff der Hamas auf Israel

An diesem brutalen Angriff gibt es einige Aspekte, die auf den neuen und gefährlichen Charakter der Angriffe verweisen.

Zunächst einmal waren die Übergriffe keineswegs die Folge einer spontanen, ungeplanten Aggression. Sie wurden vielmehr über Wochen und Monate hinweg geplant. Alle Terrorist:innen hatten Pläne für das Vorgehen in den jeweiligen Dörfern dabei. Als Ziele wurde dabei beispielsweise das Töten von Zivilist:innen oder die Verschleppung von Geiseln angegeben. Über einen längeren Zeitraum hinweg haben die Verantwortlichen der Hamas systematisch Informationen über die betroffenen Dörfer gesammelt und die Pläne direkt für jedes Dorf angepasst. [Quelle]

Das systematische und geplante dieser Aktion erinnert in bitterer Weise an die Geschehnisse während des Nationalsozialismus. Auch hier standen Massenmorde und Erschießungen an der Tagesordnung. [Quelle] Die Politik der Nazis war durch den Wunsch geprägt, so viele jüdische Menschen zu töten wie möglich. Um dies zu erreichen, ist das Regime äußerst planvoll vorgegangen und hat versucht, in dieser Sache nichts dem Zufall zu überlassen.

Darüber hinaus wurden seit 1978 nicht mehr so viele Juden:Jüdinnen an einem Tag getötet. [Quelle] Dass die Übergriffe vom 7. Oktober in erster Linie Zivilist:innen trafen, ist dann auch kein Wunder. [Quelle] Es ging nicht darum, militärische Vorteile im Krieg gegen Israel zu erlangen. Stattdessen war es das erklärte Ziel, möglichst viele jüdische Menschen zu töten. Deshalb sind auch kleine Kinder von den Angreifer:innen ermordet worden. In dem Wahn, keine Jüd:innen am Leben zu lassen, wurden alle Leute, die sich in den Dörfern aufhielten, getötet. So sind auch 6 thailändische Arbeitsmigrant:innen und 10 Beduin:innen den Attacken zum Opfer gefallen.

Dass diese Tötungen negative Folgen für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen haben würden, wurde dabei von den Angreifer:innen offenbar als eine Art “Kollateralschaden” hingenommen. Ihr Ziel, jüdische Menschen zu töten war ihnen wichtiger als die Sicherheit und das gute Leben der Menschen im Gazastreifen.

Eine dritte Besonderheit ist die außergewöhnliche Brutalität, mit der die Verbrechen begangen wurden. Die Opfer wurden vor ihrem Tod oftmals gequält, es kam zu brutalen Folterungen nicht nur an erwachsenen, wehrfähigen Menschen (was selbstverständlich schon schlimm genug wäre), sondern auch an Kindern. Diese Brutalität und die mit ihr einhergehende Entmenschlichung bedarf einer eigenen Erklärung für den Charakter des Verbrechens vom 7. Oktober.

Reaktionen

Der Terror vom 7. Oktober stellt einen Bruch innerhalb der israelisch-palästinensischen Geschichte dar. Die Hamas war schon immer eine Bedrohung für die Existenz Israels und damit für alle lebenden jüdischen Menschen. Nachdem sie nun sehr nachdrücklich darauf hingewiesen hat, dass sie nicht nur den Willen, sondern auch die Mittel hat, diese Bedrohung auf brutale Weise in die Realität umzusetzen, haben sie jeder Form des Appeasements der israelischen Regierung gegenüber der staatstragenden Terrororganisation den Boden entzogen. Es ist nicht verwunderlich, dass die israelische Regierung nun auf eine militärische Operation abzielt, mit der die Hamas tatsächlich zerschlagen werden soll.

Gleichzeitig ist freilich absehbar, dass dieses Vorhaben für die Menschen im Gazastreifen eine Katastrophe darstellt. Denn sie werden von der Hamas als lebende Schutzschilder missbraucht. Ihre Terrorzentralen liegen in einem Tunnelsystem unterhalb von Gaza-Stadt versteckt. Insbesondere Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten und Einrichtungen der UN werden von ihr gerne als Schutz missbraucht. Darüber hinaus hat sie sehr bewusst jede ökonomische und gesellschaftliche Perspektive im Gazastreifen vernichtet, so dass die zumindest teilweise Abhängigkeit etwa von israelischen Strom- und Wasserlieferungen erhalten blieb.

Das macht die Kriegsführung für die Armee eines demokratischen Rechtsstaates (denn das ist die IDF) nicht einfach(er). Schon seit vielen Jahren ist es bei der israelischen Armee üblich, die lokale Bevölkerung vor Luftschlägen z.B: via Social Media zu warnen. Auch die Bitte an die Menschen im nördlichen Teil des Gazastreifens, sich in den Süden zu begeben, steht ganz eindeutig in dem Geist, zivile Opfer nach Möglichkeit zu verhindern.

In der medialen Darstellung tauchen diese Zusammenhänge allerdings in der Regel nicht auf. Nicht nur in Deutschland wird der menschenverachtende Charakter der Hamas unterschätzt. Gleichzeitig hat sich der Antisemitismus auch in Europa erhalten und trägt dazu bei, vom israelischen Staat stets das Schlimmste zu denken. Berichte über einen vermeintlichen Völkermord im Gazastreifen sind schon schlimm genug, dass sie massenhaft und auch von vermeintlich “Linken” für bare Münze genommen werden, führen zu einem gefährlichen gesellschaftspolitischen Pulverfass. Vieles deutet darauf hin, dass dies Pulverfass gerade zu explodieren droht. 

Ohne die Bereitschaft, das Phänomen des Antisemitismus und seine Verkoppelung mit falschen, brandgefährlichen Kapitalismuskritiken zu verstehen, wird es keine emanzipative Perspektive für gesellschaftliche Emanzipation geben. Auf diesen Gedanken hat ein gewisser Robert Kurz übrigens schon 2009 hingewiesen:

Israels Doppelcharakter […] folgt aus dem Gegensatz zur materiellen Gewalt der antisemitischen Krisenideologie im Weltkapitalismus überhaupt und bleibt insofern bestehen, solange dieses Weltverhältnis besteht. Wenn sich dieses gesellschaftliche Verhältnis katastrophisch auflöst und die staatliche abstrakte Allgemeinheit überall zu „failed states“ mutiert, kann auch Israel davon nicht unberührt bleiben. Es ist möglich, dass Israel in der Weltkrise zerstört wird, sowohl von außen als auch von innen; das würde allerdings bedeuten, dass sein Doppelcharakter dem Krisenprozess nicht standhalten kann, keineswegs aber, dass er nicht an sich gegeben ist. Für einen möglichen Untergang in der allgemeinen Barbarisierung gibt es zwar leider gute Gründe; aber deswegen unvermittelt und vorrangig diesen Doppelcharakter zu negieren, liefe darauf hinaus, implizit den Standpunkt der Israelfeinde zu unterstützen, die das allgemeine Problem stellvertretend an der Existenz des Judenstaats dingfest machen wollen. Aus der Perspektive radikaler Kritik kann der drohende Zerfall in barbarische Verhältnisse nicht ausgerechnet zuerst und exemplarisch gegen den Doppelcharakter Israels geltend gemacht werden.

Robert Kurz: Die Kindermörder von Gaza, S. 197

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