Gesellschaftswissenschaftlich nicht ganz auf der Höhe - Harald Lesch YouTube

„Das verstehe ich nicht!“ – Harald Lesch und das Kapitalozän

In einem Vortrag über den Klimawandel, der inzwischen 1,9 Mio Klicks hat, zeigt der Populärwissenschaftler Harald Lesch auf, was im Moment mit unserem Planeten passiert. Und was in Zukunft passieren wird, wenn wir nicht schleunigst etwas dagegen unternehmen. Auf dieser (naturwissenschaftlichen) Ebene ist sein Vortrag sehr aufrüttelnd und lehrreich.

Seinen Vortrag begleitet hartnäckig die Frage, wie das alles passieren konnte, wo die Menschheit doch eigentlich so viel besser mit ihrer Umwelt umgehen könnte. Er kann die Frage leider nicht beantworten, weil seine wissenschaftliche Analyse dort aufhört, wo eine Diskussion um den Begriff der Gesellschaft beginnen müsste.

Harald Leschs Vortrag an der Universität Ilmenau über „Das Kapitalozän“ endet mit Ratlosigkeit:

„Wir ökonomisieren Lebensbereiche, die wir nie hätten ökonomisieren dürfen. Universitäten, Pflegeberufe, unser Gesundheitswesen. Überall ist irgendjemand da, der Gewinne haben will. Ich fasse es nicht! Wie konnte uns das passieren? Wie konnten wir soweit weggehen von dem, was wir mal als humanistisch betrachtet haben. Wie kann das sein?“.

Minute 1:17:25 – 1:17:45

Das Kapitalözän als Naturgeschichte

Um herauszufinden „wie das passieren konnte“ müssten wir uns mit der von der Gesellschaft geformten Art unseres Umgangs mit der Natur beschäftigen. Lesch hat zwar gute Ansätze, kann diese jedoch nicht hinreichend erklären. Sein Vortrag startet mit der zentralen Erkenntnis, dass die moderne und allgemeine Wissenschaft erst seit ca. 400 Jahren mit der Astronomie begann. Diese abstrahiert von ihrem Inhalt, bei Lesch ist das „die Natur“.

„Das Interessante, und da will ich gleich mal mit ein wenig Philosophie einsteigen, ist ja, dass die Vorstellung, wir könnten die Natur so genau entweder manipulieren oder kontrollieren oder sogar berechnen. Die stammt ja daher, dass wir angefangen haben vor 400 Jahren Dinge zu berechnen die am Himmel passieren. Himmelsmechanik. Also Leute wie Kepler, Galilei und viele Andere die eben die Bewegungen am Himmel mathematisiert haben und denen es dann gelungen ist auf ihrem Schreibtisch zum Beispiel die Bewegungen so genau vorauszusehen, dass natürlich der Eindruck entstehen musste, wenn wir den Himmel berechnen können, dann können wir alles berechnen. Also mit der Mathematik ist uns ein Instrument in die Hand gelegt, wo wir der Natur mathematische Fragen stellen könne mithilfe von Messungen und mathematischen Hypothesen, und das Tolle ist, die Mathematik liefert, oder die Natur gibt uns mathematische Antworten. Großartig! Und da die Präzision dieser ersten Vorhersagen aus der Himmelsmechanik alle unglaublich gut waren also sehr präzise waren, entstand allmählich der Eindruck wir Menschen könnten die Natur mathematisch kontrollieren, wir könnten mit unserer empirischen Wissenschaft, also mit der Wissenschaft wie z.B. Physik oder Chemie, Biologie, später den ganzen technologischen Fächern könnten wir mit Natur das machen, was wir wollten. Weil wir die Erfahrung gemacht haben nämlich über eine Strukturwissenschaft, Mathematik ist ja keine Naturwissenschaft, sondern eine Strukturwissenschaft, die sich mit Strukturen beschäftigt, die gar nicht existieren müssen.

Minute 05:14 – 06:48

So richtig diese von der historischen Neuartigkeit der mathematisch fundierten modernen Form der Naturerkenntnis ist, zeigt seine Darstellung gleichzeitig ein plumpes Verständnis dieses Verhältnisses. Für Lesch existiert der einfache Gegensatz von Mensch und Natur von jeher. Das Problem ist nun, dass diese Auffassung von einem Innen (das rationale Subjekt) und einem Außen (die objekthaft zu begreifende Natur und die Materie) nicht einfach so in die Köpfe der Menschen geflogen ist, sondern mit der menschlichen Praxis, ihrer Art der Auseinandersetzung mit der Natur eng zusammenhängt, aus ihr entsteht.

Dass die moderne Forschungstätigkeit nicht im leeren Raum stattfindet, ist Lesch selbstverständlich bekannt. Und die Tatsache, dass wissenschaftliche Entscheidungen auch aus ökonomischen Gründen getroffen werden, ist ihm nicht verborgen geblieben. Empört weist er sogar darauf hin, dass auch die Universitäten dem abstrakten Reichtum, in Form von Geld, hinterherrennen:

„Die Natur ist eine Mitwelt, sie ist die Bedingung der Möglichkeit überhaupt Mensch zu sein du wir haben das irgendwie vergessen. Wir sehen heute im Wesentlichen nach der Bedingung der Möglichkeit viel Geld zu verdienen. Einige auf jeden Fall sehen das ganz gewaltig.“

Minute 12:30 – 12:43

Dieses Beispiel zeigt das Problem mit Leschs Analyse auf. Ist seine naturwissenschaftliche Analyse sicherlich sehr gut theoretisch und faktisch belegt, entbehrt seine Analyse auf der gesellschaftswissenschaftlichen Ebene jeglicher Grundlage. Lesch unterstellt, die Bologna-Reform seien das Ergebnis gelangweilter Willkür von politischen Autokrat*innen. Damit ist er nicht weit von den Erklärungsmustern diverser Verschwörungsheinis entfernt, die er ja andernorts zurecht scharf kritisiert.

Die Ökonomisierung wird, von ihm satirisch zugespitzt (siehe unten), auf einzelne Verantwortliche zurückgeführt, die einfach Spaß dran hatten, den Universitätsbetrieb zu ökonomisieren. Dass zeitgleich auch andere Teile des gesellschaftlichen Lebens ökonomisiert wurden, muss bei dieser Betrachtung außen vor bleiben. Die Plattheit der Darstellung ergibt sich als direkte Folge der Abwesenheit jedweder gesellschaftstheoretischen Reflexion.

Das ist für Jemanden, der sich wissenschaftlich gibt, keine befriedigende Erklärung. Für Lesch scheint es so etwas wie Gesellschaftswissenschaft nicht zu geben. Es würde den Mathematikerinnen, Biologen, Physikerinnen und Chemikern jedoch guttun, sich mal mit ihrer eigenen gesellschaftlichen Genese auseinanderzusetzen und die Sozialwissenschaften mit in ihre Analysen einzubeziehen. Das gilt nicht nur für die gesellschaftlichen Grundlagen der gängigen Art und Weise, Naturprozesse theoretisch zufassen, sondern auch für die Einbindung des Forschungsbetriebs in die gesellschaftlichen Mechanismen. Gerade beim Klimawandel wäre es immens wichtig, zu hinterfragen, woher denn der gesellschaftliche Trieb zur Umweltzerstörung kommt.

Auf diesem oberflächlichen Niveau bleibt seine gesellschaftliche Analyse jedoch den ganzen Vortrag über. Der Prozess der Ökonomisierung, nicht nur der Universität, sondern der kapitalistischen Gesellschaft im Allgemeinen läuft auch nicht erst seit der Bologna-Reform im Jahre 2008. Sie ist vielmehr Ausdruck der ganzen Dynamik unseres Gesellschaftssystems, spätestens seit dem Beginn des Industriekapitalismus im 18. und 19. Jahrhundert. Aus Geld mehr Geld zu machen ist kein peripheres Feature (oder gar ein Bug) des Kapitalismus, das irgendwann vor ein paar Jahren plötzlich auftauchte, es ist der Kern unseres Wirtschaftssystems. Alle Subjekte innerhalb dieses Systems der Wertverwertung sind, ob sie wollen oder nicht, teil der „rastlosen Bewegung des Gewinnens“ (Karl Marx). Da der Prozess der Verwertung von Rohstoffen und menschlicher Arbeit maßlos ist, wird mit der fortschreitenden Entwicklung des Kapitalismus alles verwertbar, auch die Universitäten. Die Bologna-Reformen sind als ein Symptom der aktuellen Verwertungsstrategie, des Neoliberalismus, zu betrachten. Das ist innerhalb der Sozialwissenschaften auch bekannt, doch Lesch kann alle diesbezüglichen Erkenntnisse nicht aufgreifen, da er selbst auf das Niveau von Stammtischparolen wechselt, sobald er das explizit naturwissenschaftliche Terrain verlässt:

„Nachdem die Universitäten, die Hochschulen zu einem Zuliefererbetrieb für die Industrie gemacht worden sind, nicht zuletzt dank der Bologna-Reform, diesem komischen Verdauungsproblem der Bildungs … sie wissen ja meine These, wie Bologna entstanden ist. Bologna hat ja den Spitznamen la grassa, die Fette, naja, man kann sich vorstellen, die saßen da in Bologna, haben ordentlich getagt, dann haben sie gegessen, dann haben sie noch n Grappa und noch n Espresso, wie das so ist, und dann haben sie aber alle noch festgestellt, wir haben den Nachmittag noch frei. Unsere Flugzeuge gehen erst im späten Nachmittag, was machen wir denn heute noch. Ja, wir homogenisieren den europäischen Bildungsraum. Und so ist der Bologna-Prozess eben das Resultat schlechter Verdauung von einer Gruppe von Leuten. Das hätten wir uns ersparen können, die systematischen Fächer und die technischen Fächer und die Physik sind völlig systematisiert gewesen. Das noch zu Modularisierung, das kann man nur als irrsinnig bezeichnen.“

Minute 10:09 – 11:08

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