Corona und ich oder: Ich und Corona

Wie ich mich in der Corona-Krise verhalte?

Nun, ich wasche mir noch sorgfältiger als früher die Hände. Ich niese nicht mehr wild in die Gegend, sondern in die Armbeuge oder in ein Taschentuch. Ich trage bis auf Weiteres in der belebten Öffentlichkeit eine Mund-Nase-Bedeckung, um andere Menschen für den Fall, dass ich infiziert sein sollte, vor einer Infektion zu schützen.

Leider ist man ansteckend, bevor sich Symptome zeigen. Untersuchungen haben einwandfrei ergeben, dass Selbstschutz vor Viren mit einer Gesichtsmaske kaum, Fremdschutz jedoch sehr wohl möglich ist, weswegen ja auch Ärzte, Anästhesisten und Assistenten bei Operationen eine Maske und Schutzkleidung tragen.

Je mehr Leute eine Gesichtsbedeckung tragen, umso sicherer ist man selbst vor Infektionen. Wer also Mitmenschen mehr oder weniger aufdringlich auffordert, auf dieses Schutztextil zu verzichten, schießt unter Umständen ein gewaltiges Eigentor. Ich habe beschlossen, mich künftig auch dann auf diese Art bedeckt zu halten oder gleich ganz zu Hause zu bleiben, wenn ich an einer gewöhnlichen Erkältung laboriere. I

ch bin Sprachlehrer und habe mich viele Male mit meist langwierigen Folgen infiziert, weil ein Erkrankter oder eine Erkrankte partout den Unterricht besuchen wollte. Abstand gehalten habe ich, wo es irgend ging, schon immer, wenn ich erkältet war, und habe das im umgekehrten Fall auch von meinen Mitmenschen erwartet.

Abstand ist in diesen Fällen die adäquate Form menschlicher Nähe und zeugt von Respekt und gegenseitiger Fürsorge. Umso mehr gilt das bei einem gefährlichen Virus wie Covid-19. Das alles sind menschenfreundliche Selbstverständlichkeiten, von denen man eigentlich kein Aufheben machen müssen sollte.

Selbstverständlich lege ich dieses Verhalten nicht deshalb an den Tag, weil es der Staat verordnet hat, sondern weil ich es will und weil ich seine Nützlichkeit einsehe. Ich desinfiziere mir auch beim Betreten eines Krankenhauses oder Senioren-Heims die Hände, ich gehe und fahre nicht bei Rot über die Straße, ich drängle mich in einer Schlange nicht vor, ich halte den Behindertenplatz im Bus frei. Nur Rüpel, Grobiane und Laffen verhalten sich anders.

Es wäre kindisch und rücksichtslos, wegen gleichlautender staatlicher Anordnungen auf ureigene treffliche Ratschlüsse zu pfeifen. Lieber einmal zu viel Achtsamkeit gezeigt als einmal zu wenig! Wenn Andere anders denken und sich anders verhalten, muss ich es wohl oder übel hinnehmen. Was ich jedoch nicht akzeptiere, ist eine bewusste Verletzung der Interessen von Mitmenschen mit unter Umständen schwerwiegenden Folgen.

Abstoßend finde ich es, wenn diejenigen, die während der Corona-Pandemie in der Öffentlichkeit besonnen und rücksichtsvoll agieren, von bestimmten Zeitgenossen einerseits als Angsthasen und andererseits als willfährige Obrigkeitsbücklinge denunziert werden. Vollends arschlochhaft ist ihre Etikettierung als „Coronazis“.

Diese „Stürmer“-Vokabel entfuhr einem Unterstützer der neugegründeten politischen Gruppierung „Demokratischer Widerstand“ namens Gunnar Kaiser aus einer an und für sich für Dünnpfiff nicht vorgesehenen ganz und gar maulkorblosen Körperöffnung. Auch der Schritt von der verbalen Verunglimpfung zum gewalttätigen Übergriff wurde getan: Bei Kundgebungen von Gegnern der staatlichen Corona-Politik in München und Nürnberg am 10. Mai 2020 wurde versucht, Passanten die Mund-Nase-Bedeckung vom Kopf zu reißen.

Der „Demokratische Widerstand“ und einige andere Gruppen und Personen sind es auch, die wie der Gockel auf dem Mist unablässig in die Gesellschaft hineinkrähen, dass das Covid-19-Virus doch gar nicht so schlimm sei. Mehr Erkrankungen und Todesfälle als bei der alljährlichen Grippe-Epidemie gebe es doch gar nicht!

Ergänzt wird die stiernackige Herabstufung von Covid-19 auf den Rang einer gewöhnlichen Influenza oft durch den Hinweis darauf, dass es hauptsächlich betagte Menschen seien, die dieser neuartigen Krankheit zum Opfer fielen, idealtypisch formuliert durch Boris Palmer, den grünen Oberbürgermeister von Tübingen: „Ich sag es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“

Ich muss gestehen, dass ich in einem ersten Reflex zu Beginn der Corona-Pandemie ähnlich gedacht habe. Ziemlich schnell bin ich aber vor mir selbst erschrocken. Natürlich stimmt es, dass selbst unter den günstigsten Umständen menschlichen Zusammenlebens nicht alle krankheitsbedingten Todesfälle zu vermeiden sind, die Frage ist aber, wie viele unter Aufbietung aller Kräfte und Möglichkeiten vermieden werden können!

Das wiederum hängt in starkem Maße von den politischen, sozialen, ökonomischen und damit auch medizinisch-hygienischen Verhältnissen in einem Land ab. Viele Länder in den abgehängten Regionen des Globus haben miserable Gesundheitssysteme, nicht nur im Hinblick auf Grippe-Epidemien. Auch in Deutschland ist das Gesundheitswesen in den letzten 20 Jahren im Hinblick auf die Profitabilisieorientierung dieses Sektors verschlankt worden. Allein hier sind im Jahr 2019 laut dem Robert-Koch-Institut etwa 25 000 Menschen an einer Grippe gestorben. Ob diese Zahl durch eine bessere medizinische Versorgung hätte geringer ausfallen können, weiß ich nicht, aber unbestritten ist, dass sie viel höher gewesen wäre, wenn sich nicht Millionen vor allem älterer und gesundheitlich vorbelasteter Menschen vorsorglich hätten impfen lassen.

Auch ich lasse mich alljährlich gegen die Grippe impfen. Ein entscheidender Unterschied zwischen den Grippeviren und dem Covid-19-Virus ist eben, dass es für letzteres im Gegensatz zu ersteren noch keinen Impfstoff gibt und dass es in seinen Eigenschaften und Wirkungsweisen bislang noch nicht umfassend erforscht ist. Wenn es auch für die Grippeviren keinen Impfstoff gäbe, wäre die Zahl der Toten um ein Vielfaches höher.

Hätten die Menschen weltweit nicht so besonnen reagiert und sich stattdessen von Corona schicksalsergeben „durchseuchen“ lassen, wären die Folgen verheerend gewesen. Von einer vollendeten Durchseuchung spricht man, wenn 60 bis 70 Prozent einer gegebenen Anzahl Personen von einem Virus befallen worden sind. Im Falle Deutschlands wären das etwa 50 Millionen Einwohner. Bei einer gewöhnlichen Grippe beträgt die Sterblichkeitsrate 0,1 bis 0,2 Prozent, bei Covid-19 ist sie nach Auskunft der allermeisten Virologen fünf- bis zehnmal so hoch.

Seien wir zurückhaltend und gehen wir von einer Mortalitätsrate von 0,5 Prozent aus. Liebe Leute vom „Demokratischen Widerstand“: Wieviel ist ein halbes Prozent von 50 Millionen? Schon mal durchgerechnet? 250 Tausend etwa? Habt ihr das realisiert? Eine Stadt wie Augsburg – weitgehend entvölkert? Diese Zahl von verstorbenen Menschen also würdet ihr nach Lage der Dinge nonchalant in Kauf nehmen. Nochmal für alle, die entweder böswillig oder leichtfertig mit „normalen“ Letalitäts-Zahlen hantieren: Bei 250 Tausend Toten hätte jeder von Euch in seiner näheren oder ferneren Umgebung mindestens einen Verstorbenen zu beklagen, wenn es ihn nicht gleich selbst getroffen hätte!

Manche setzen noch einen drauf: Vor Viren müsse niemand flüchten, sie seien ein Teil des Lebens, können wir lesen. „Unser Immunsystem“, so können wir beispielsweise lesen, „ist meistens stark genug, die natürlichen Eindringlinge abzuwehren, nach kurzer Zeit sind wir wieder wohlauf.“

Meist! Meistens! Ha, wir Gesunden! Wir mit dem starken Immunsystem! Manchmal? Kranke? Die mit dem schwachen Immunsystem? Die zigtausend Covid-19-Toten? Müssen wohl am Beatmungsgerät an einem Schnupfen gestorben sein, mit einer Prise „Unwohlsein“ als Zugabe. Waren wohl nicht stark genug! Sind nicht, wie es sich für einen anständigen Menschen gehört hätte, „wieder wohlauf“ geworden.

Nein, vor Viren müssen wir nicht flüchten. Gehören zum Leben. Her mit HIV! Her mit Grippe-Viren! Her mit Covid-19! Ein Guter hält´s aus!

Es steht fest, dass durch das besonnene Verhalten vieler Menschen auf der ganzen Welt sehr viele Corona-Opfer vermieden worden sind! Es ist unbezweifelbar, dass es eine vielfach höhere Zahl von schwer Erkrankten, dauerhaft Geschädigten und Verstorbenen gegeben hätte, als sie es bis Anfang September 2020 gegeben hat, wenn alle so gedacht hätten wie der „Demokratische Widerstand“ und Boris Palmer.

Gerade diese Leute sind es aber, die seit Wochen exzessiv auf dem ersten Satz des ersten Artikels der im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland enthaltenen Grundrechte herumreiten: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Natürlich ist diese billig zu habende Sentenz das Papier nicht wert, auf das es gedruckt ist, wenn man sich die Lebensbedingungen vieler Menschen selbst in einem globalen Gewinnerland wie Deutschland ansieht, ganz zu schweigen vom beschissenen Leben unzähliger Menschen in den Zulieferzonen der Erde für u. a. deutsches Kapital.

Als Beispiel aus Bad Old Germany möge der am 1. Januar 2020 um 16 Cent (!) von 9,19 auf 9,35 Euro angelüpfelte Mindestlohn genügen. Was für eine grandiose Verarschung! Der „Demokratische Widerstand“ aber nimmt den zitierten Satz – scheinbar? – für bare Münze und zieht mit ihm wie unter einem Heerbanner in die angestrebte Schlacht.

Nun denn, Leute vom „Demokratischen Widerstand“: Hic Rhodos, hic saltate! Schlagt euch doch für die Würde eurer Mitmenschen in die Bresche, und wenn sie noch so alt sind! Aber nein, sie springen nicht! Also muss ich ihnen ein Beispiel geben:

Ende 2018 zeichnete sich unwiderruflich ab, dass meine Mutter, die in einem – sehr gut geführten – Passauer Seniorenheim ihre letzten Monate verbrachte, nur noch wenige Wochen zu leben bzw. zu leiden hatte. Zu allem Überfluss war eine Schneidezahn-Krone kaputtgegangen, so dass nur noch ein kümmerlicher und entstellender Stiftzahn zu sehen war.

Meine Geschwister und ich veranlassten umgehend, dass für ein paar hundert Euro eine neue Krone hergestellt und angepasst wurde. Vier Wochen später wurde dieser Kunstzahn bei der Einäscherung unserer Mutter mitverbrannt.

Hätten wir die gleiche Einstellung gegenüber alten Menschen gehabt, wie sie der „Demokratische Widerstand“ und Boris Palmer in der Corona-Pandemie an den Tag legen, und hätten wir den neuen Zahn wegen seiner absehbar kurzen Tragezeit nicht in Auftrag gegeben, wäre es würdeloses Verhalten unsererseits und am Ende ihres Lebens ein entwürdigender Umstand mehr für unsere Mutter gewesen!

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