Corona und ich oder: Ich und Corona

Ob ich unter dem staatlicherseits angeordneten Lockdown leide?

Ich beantworte diese Frage nur dann gerne, wenn der Fragesteller oder die Fragestellerin sich auch nach meiner Ansicht über den normalen Gang der Dinge erkundigt und zumindest Neugierde für meine Absage an das gewöhnliche staatliche und kapitalistische Wirken zeigt. Ich weigere mich, mit einer nationalen Identität in eine Debatte, die unter nationalen Vorzeichen geführt wird, einzusteigen.

Die Drangsale eines in Indien lebenden Wanderarbeiters gehen mir näher als die Parkplatznöte eines in Berlin lebenden SUV-Besitzers mit deutschem Pass. Die schweren Erkrankungen und Todesfälle, die die Covid-19-Pandemie weltweit verursacht hat, berühren mich. Ich beklage die elenden Lebensumstände und die miserable medizinische Versorgung in vielen Ländern. Die unfassbare Armut von Abermillionen Menschen aufgrund des weltweit herrschenden kapitalistischen Geldvermehrungssystems entsetzt mich.

Wie es mir persönlich geht?

Nun denn, mir geht es gut.

Das Virus hat mich erfreulicherweise bis jetzt verschont. Ich genoss in der Zeit des Lockdowns die Fahrten in schwach besetzten öffentlichen Verkehrsmitteln und tat einen Teufel, mir sardinendosenvolle U-Bahnen, Straßenbahnen und Züge zurückzuwünschen. Ich liebte es, nachts an der Münchner Lindwurmstraße zu stehen und vom Sendlinger-Tor-Platz bis zur Poccistraße auf einer Länge von fast zwei Kilometern kein einziges Auto zu sehen.

Ich betrachtete tagsüber oft den schrammenlosen Himmel, einen Himmel, wie es ihn seit vielen Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat. Es gefällt mir, dass an den Supermarktkassen kaum mehr gedrängelt wird. Ich hoffe, dass das abstandhaltende Schlangestehen auch nach Corona beibehalten wird. Länger warten muss man deshalb noch lange nicht.

Unterrichten konnte ich drei Monate lang nicht, doch das war nach 41 Jahren Lehrtätigkeit verschmerzbar. Ich habe in dieser Zeit kein Geld verdient, aber egal! Und die Kultur? Da mir unter allen Künsten die Literatur die liebste ist, bin ich von Haus aus aus dem Schneider. Unabhängig von Ort und Zeit ein gutes Buch zu lesen ist Kopfkino, Gedankenballett, Gehirngymnastik, Seelenmusik, geistige Architektur in einem!

Und sonst? Ehrlich gesagt, mir fehlt gar nicht so viel. Von verhaltensauffälligen bis -gestörten Schauspielern, Regisseuren, Kabarettisten und Comedians halte ich mich eh seit Langem fern. Erfrischend finde ich den Münchner Filmemacher Klaus Lemke, der das deutsche Kino, von wenigen Ausnahmen abgesehen, für „eine verweichlichte, bürokratische Idiotenveranstaltung“ hält, „gelähmt vom Einverständnis mit einem Fördersystem, das ein Tritt in die Kreativität jedes Regisseurs ist.“ Jetzt, wo alles heruntergefahren ist, wäre seiner Ansicht nach für all die „Jammerer“ in der Filmbranche „der ideale Zeitpunkt für einen Neustart gekommen.“ Lässig bleiben! Das ist auch meine Parole. Diese Welt ist sowieso nicht meine Welt.

Ob es mich kalt lässt, dass durch den Lockdown die Wirtschaft, zumindest partiell, den Bach runtergeht?

Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Soll sie es doch, meinetwegen kann sie über den Jordan gehen! Eine Wirtschaftsform, deren grundlegender Zweck die Vermehrung des Geldes ist, eine Wirtschaftsform, die Mensch, Tier und Natur einzig und allein nach ihrem ökonomischen Nutzen betrachtet und behandelt, eine Wirtschaftsform, die einige Millionen Menschen stinkreich und Milliarden von Menschen bitterarm macht, eine Wirtschaftsform, die das Klima unseres Planeten in einer erdhistorisch gesehen aberwitzig kurzen Zeit aus dem Tritt gebracht und unendliche Zerstörungen in Fauna und Flora angerichtet hat und weiter anrichtet – so eine Wirtschaftsform gehört, mit Verlaub, besser heute als morgen downgelockt!

Nun hat es der Staat selbst gemacht. Ein Grund zum Jubeln? Immerhin hat sich die Luft über den industriellen Kernzonen des Globus erheblich verbessert. Aber nein, die Stilllegung weiter Bereiche der Wirtschaft soll nur vorübergehend sein. Ist das schade!

Ob mich das Los der vielen Menschen, die durch den Lockdown großer Bereiche der Wirtschaft arbeitslos wurden oder mit ungewisser Perspektive in Kurzarbeit gehen mussten, nicht rührt?

Doch, antworte ich, das rührt mich schon, das rührt mich genauso wie der Umstand, dass auch schon vor Corona Menschen arbeitslos waren oder sich für lachhaft wenig Geld Monat für Monat den Rücken krummbuckeln durften, und da ich nicht mit schwarz-rot-goldenen Scheuklappen durch die Welt laufe, rührt es mich genauso wie das Faktum, dass in Afrika und anderswo mit Kinderarbeit seltene Erden für die Produktion unserer tollen technischen Geräte und für den Profit der verarbeitenden Unternehmen aus der Erde gebuddelt werden, und es rührt mich ebenso wie die elenden Lebensbedingungen in den Slums der Großstädte dieser Welt, und es rührt mich nicht weniger als die Tatsache, dass noch in den hinterletzten Winkeln der Erde für die Vermehrung des Geldes Menschen aus ihren angestammten Lebensverhältnissen gerissen und als menschlicher Müll liegen gelassen werden.

Was mich aber auch rührt, nein: schockiert, ist der Umstand, dass die Menschen auf der ganzen Welt das alles haben geschehen und das alles mit sich haben machen lassen.

Arbeit im Kapitalismus dient ausschließlich dem Zweck der Vermehrung von Kapital – das berühmte G – G‘ von Karl Marx – und wird deswegen auch nur dann, wenn dieser Zweck realisiert werden kann, „gegeben“. Arbeit und Einkommen sind im Kapitalismus von jeher prekär gewesen, weswegen es schon seit eh und je Gründe genug gab, dieser ökonomischen Form Adieu zu sagen.

Spätestens in den Krisen, die dem Kapitalismus so immanent sind wie dem Elefanten sein Rüssel, erleben die Menschen, dass das Geldvermehrungssystem nicht zu verwechseln ist mit einem gesellschaftlichen Zustand, in dem von allen Menschen genau das produziert wird, was allen ein auskömmliches und zufriedenstellendes Leben in einer intakten Natur ermöglicht. Dann verlieren Millionen von Menschen buchstäblich den Boden unter den Füßen.

Vor etwa 200 Jahren hat der Siegeszug des Kapitalismus über die Welt begonnen. Der Kapitalismus ist die despotischste Wirtschaftsform aller Zeiten. Vor ihm hatte buchstäblich nichts Bestand. Viviane Forrester spricht in ihrem empfehlenswerten gleichnamigen Buch vom „Terror der Ökonomie“.

Milliarden von Menschen sind, ob sie wollen oder nicht, davon betroffen. Ihre natürlichen und sozialen Lebensbedingungen und auch sie selbst haben einen Wert bekommen. Oder auch keinen. Der Kapitalismus hat die Menschen heruntergebracht auf nacktes Leben. Geld ist alles, der Mensch an sich ist nichts. Wenn der nackte Mensch einen Wert bekommt, weil er sich verdingen darf, ist er etwas. Dann hat er etwas. Ansonsten bleibt er nichts und hat auch nichts.

Verwertbar oder nicht? Das ist die kapitalistische Urfrage. Wessen Arbeitskraft nicht profitabel benutzbar ist, der kann schauen, wo er bleibt. Wenn er verhungert, weil ja alles seinen Preis hat, er aber kein Geld – sein Problem! Hunger, Not und Elend gehören zum Kapitalismus wie das Wasser zum Meer.

In den Zeiten der Corona-Pandemie setzt sich die kapitalistische Kosten-Nutzen-Rechnung logischerweise mit verheerenden Folgen fort. Wessen Arbeitskraft nicht mehr profitabel eingesetzt werden kann, der fliegt. Es kommt zu Firmenpleiten und Kurzarbeit. In nicht-kapitalistischen und nicht-nationalen Verhältnissen dagegen würde in einer Pandemie das öffentliche und auch schaffende Leben heruntergefahren werden, ohne dass auch nur ein Mitglied der Menschengemeinde Angst um sein Aus- und Weiterkommen haben müsste.

Man sollte sich schon auch ansehen, welche Arbeitsplätze und Jobs in der Corona-Zeit verloren gehen. Ich möchte niemand wünschen, nach der Zwangspause wieder in eine Knochenmühle zurückkehren zu müssen, die ihm seine Lebenskraft und Gesundheit raubt, und obendrein aufs Neue miserabel bezahlt zu werden.

Soll man wirklich sein halbes Leben an der Kasse, am Bildschirm oder in einem Call-Center verbringen? Wie viele Arbeitsplätze sind denn nicht, bei Licht betrachtet, veritable Scheiß-Arbeitsplätze? Freilich, Investmentbanker und Soldaten sind unter kapitalistisch-nationalen Vorzeichen unverzichtbar, aber in einem anderen Leben …?

Natürlich ist das eine Systemfrage. Wie wollen die Menschen leben? Leider stellt sich so gut wie niemand diese Frage auf eine Kapitalismus und Nationalstaat transzendierende Weise.

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