Über den Status des afrikanischen Kontinents in der deutschen Außenpolitik informierte uns der CSU-Politiker und Entwicklungsminister Gerd Müller bereits im Jahr 2017. „Europas Schicksal und Zukunft entscheidet sich auf dem afrikanischen Kontinent“ sagte er damals. Günter Nooke, der persönliche Afrika-Beauftragte von Bundeskanzlerin Angela Merkel, hat nun bereits vor einiger Zeit in einem „exklusiven Essay“ in der liberalen Schweizer Wochenzeitung Weltwoche präzisiert, was damit gemeint ist.
Das Schicksal Europas entscheidet sich in Afrika. Falls dieser Satz richtig ist, also der Migrationsdruck aus dem Süden die Stabilität der EU herausfordert, braucht es grundsätzlich neue Ansätze für eine europäische Afrikapolitik.
Günter Nooke: Migrantenstädte statt Flüchtlingslager
Gleich in den ersten zwei Sätzen macht Nooke deutlich, worum es ihm (und mit ihm der Bundesregierung, für die er spricht) geht: Das Schicksal Europas soll gerettet werden und an diesem hehren Ziel soll nun auch die europäische Afrikapolitik ausgerichtet werden.
Damit ist zugleich auch gesagt, um wen es hier nicht geht: Um die Menschen in Afrika, ihre Sorgen und Nöte geht es ebenso wenig wie um die Folgen von Kolonialismus und Klimakrise auf dem Kontinent. Die gehen zwar beide im Wesentlichen auf die Kappe des Globalen Nordens (und fallen damit in den Verantwortungsbereich der von Deutschland angeführten Europäischen Union), aber angesichts der anstehenden Bedrohungen wird doch wohl niemand kleinlich werden.
Welche Bedrohungen? Nooke klärt uns auf:
Aufgrund der Bevölkerungsentwicklung und Bildungsinnovationen wird es dauerhaft eine grosse Anzahl von gutausgebildeten Menschen in Afrika auf der Suche nach Perspektiven für sich und ihre Familien geben. Sie ziehen vor allem vom Land in die Städte. 80 Prozent dieser Migranten bleiben in Afrika – noch. Zurzeit gibt es wohl in keinem EU-Staat eine demokratische Mehrheit dafür, auch nur die verbleibenden 20 Prozent aufzunehmen. […]
Günter Nooke: Migrantenstädte statt Flüchtlingslager
Was kann ein angemessenes Angebot sein, wenn es in den nächsten drei Jahrzehnten nicht um einige 100 000 afrikanische Wirtschaftsmigranten, sondern um einige 100 Millionen geht?
Dass ein Großteil der globalen Migrationsströme aus Binnenmigration besteht und daher gar nicht bis zu den europäischen Grenzen vordringt, ist nichts Neues und verweist darauf, dass ein Großteil der von Europa verursachten Not es erst gar nicht bis vor die Festung Europa schafft. Für alle anderen soll es nach dem festen Willen der Bundesregierung in Europa allerdings keine Alternative geben. Denn wenn es in einem von der Christlichen Union geführten EU-Staat wie Deutschland keine „demokratische Mehrheit“ dafür gibt, dann liegt das nicht zuletzt an genau den Parteien, für die der Afrikabeauftragte hier spricht bzw. schreibt.
Um die Betroffenen möglichst weit von der EU fernzuhalten, möchte Nooke ihnen also ein Angebot machen. Ein umfassender Schuldenerlass, die Verfügbarmachung bislang via Patentrecht monopolisierten technischen Wissens oder das Aussetzen von Strukturanpassungsprogrammen stehen dabei allerdings nicht auf der Tagesordnung. Statt nämlich die Situation der Menschen auf dem afrikanischen Kontinent als eine Folge globaler Wirtschaftsbeziehungen zu begreifen, reduziert Nooke sie auf schlechtes Management. (Dass Leute aus CDU/CSU es sich heutzutage noch trauen, anderen schlechtes Management vorzuwerfen, ist ja für sich genommen schon ein starkes Stück!) Sein Ziel ist dementsprechend die „Schaffung geografisch definierter und klar administrierter ,Inseln guter Regierungsführung‘“. Nicht in Berlin, wohlgemerkt. Sondern weit weg, jenseits der „Zivilisation“.
Ein Beispiel dafür könnten nach Nookes dafürhalten Sonderwirtschaftszonen sein. Damit ist, wie uns Wikipedia belehrt, ein „räumlich abgegrenztes geographisches Gebiet innerhalb eines Staates (gemeint), für das rechtliche und administrative Erleichterungen für Investoren bestehen“. Falls das nicht funktioniert, (etwa weil die Staatsführung keine Lust hat, die heimische Bevölkerung für die Gewinnmargen des Kapitals zu opfern), müssen freilich andere Lösungen her. Aber dafür hat die Bundesregierung ja einen Experten angestellt, der dafür kreativ werden kann.
Wenn die staatlichen Gebilde bereits zu fragil sind, um den rechtlichen und ordnungspolitischen Rahmen für eine Sonderwirtschaftszone stellen zu können, dann muss „in fragilen Ländern oder bei fehlender ,guter Regierungsführung‘ durch dritte Autoritäten oder Garantiemächte das nötige Vertrauen für Investoren geschaffen werden“. ,Freistädte‘ bzw. ,refugees cities‘ werden diese Städte in der einschlägigen Fachdebatte genannt – Begriffe, die vom Träger des „Wirtschaftsnobelpreises“ Paul Romer in die Welt gesetzt wurden. Das habe auch alles gar nichts mit Neokolonialismus zu tun, denn 1. zeigten aktuelle Beispiele (Hongkong, Shenzen), wie gut derlei funktioniere und 2. betonten ihm gegenüber vor allem „afrikanische Staatschefs […] oft, wie sehr sie am chinesischen Entwicklungsmodell interessiert seien und davon lernen wollten.“
Falls es auch dafür nicht reicht, kann sich Nooke auch mit anderen Modellen anfreunden, in denen die Menschen einfach nur existieren, ihm dafür aber nicht allzu sehr auf den Geist gehen:
Die Grundidee für solche Städte ist ähnlich: Menschen, die ein sicheres Dach über dem Kopf haben, werden sich um ihr eigenes Leben und das ihrer Kinder kümmern. Wenn gleichzeitig dazu auch noch die Polizei ihre Arbeit macht und Sicherheit herstellt, dann nimmt eine positive Stadtentwicklung ihren Lauf.
Günter Nooke: Migrantenstädte statt Flüchtlingslager
In solchen Städten könnten dann neben ein paar durch die Aktivitäten des Kapitals verarmten Einheimischen ganz viele Geflüchtete untergebracht werden. Und wer weiß, vielleicht gibt es ja auch für die europäischen Regierungen die Möglichkeit, die eigens aus dem Boden gestampften Städte als Zielort für Abschiebungen zu verwenden. Der Afrikabeauftragte hält das für ein spannendes Konzept, passend zu den „Werte(n) und Interessen“ der Europäischen Union:
Für Deutschland wäre die Unterstützung des Konzepts überlegenswert, insbesondere wenn in solche Städte auch Rückführungen unproblematisch möglich würden. Auch hierdurch könnte ganz allgemein der Migrationsdruck auf Europa abgebaut werden.
Günter Nooke: Migrantenstädte statt Flüchtlingslager
Dass diese Überlegungen freilich völkerrechtlich hochproblematisch sind und letztlich eben doch nichts weiter tun, als die Dominanz des Globalen Nordens in einer stagnierenden globalen Ökonomie auch in den abgehängten Regionen der Welt zu festigen, scheint dem Autor dann aber doch zu schwanen. Darum betont er zum Ende seines Aufsatzes noch, dass der Ernst der Lage eine Debatte ohne Scheuklappen und „Denkverbote“ erfordere. Da kann einem schon mal schlecht werden:
Die hier vorgestellten «Inseln der guten Regierungsführung» dürfen kein Denkverbot darstellen, auch wenn solche Entwicklungszonen oder Freistädte von einer nationalen Regierung einen gewissen – zeitlich und räumlich begrenzten – völkerrechtlichen Souveränitätsverzicht erfordern.
Günter Nooke: Migrantenstädte statt Flüchtlingslager
Der unionsgeführten Bundesregierung mag derlei gut in den Kram passen. Doch gleichzeitig machen derartige Vorschläge deutlich, wie wenig aussichtsreich die Vorstellung einer Teilhabe am kapitalistischen Weltmarkt für nicht unerhebliche Teile der Weltbevölkerung bereits geworden sind. Die Krise des kapitalistischen Gesamtzusammenhangs macht neue Formen des sozialen Miteinanders nötig. Und die sind nur gegen die Hegemonie von Marktwirtschaft und nationalstaatlicher Durchsetzungsmacht zu haben.