Annalena Baerbock hat ein Buch über die Visionen geschrieben, die sie mit ihrer Kanzler*innen-Kandidatur verbindet. Viel ist über die Frage gestritten worden, woher die Autorin ihre Formulierungen genommen hat. Uns interessiert stattdessen die inhaltliche Frage, wohin sie politisch unterwegs ist. Eine Analyse.
Gleich zu Beginn ihres Buches beschreibt Baerbock die Bedeutung, die den politischen Bemühungen zukommt, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Exemplarisch benennt sie einzelne politische Maßnahmen und gesellschaftliche Institutionen, die sie für wegweisend für das heutige Zusammenleben der Menschen hält. Sie gelten ihr als positive Beispiele dafür, was alles machbar ist, wenn Menschen nur aufhören zu zaudern und das Heft des Handelns in die eigenen Hände nehmen:
Der Wiederaufbau nach dem Krieg, die soziale Marktwirtschaft, der gemeinsame europäische Binnenmarkt, die deutsche Einheit und die EU-Osterweiterung – all das wurde von Menschen vor uns erkämpft, erarbeitet und weitergegeben. Dass wir heute in einem freien, demokratischen und europäischen Deutschland leben dürfen, basiert auf Mut und politischer Weitsicht. Der europäische und internationale Gestaltungswille und die dazugehörige Veränderungsbereitschaft waren immer auch ein Garant für Stabilität, Freiheit und Sicherheit.
Annalena Baerbock: Jetzt, S. 11
Der Wille, die Welt zum Besseren zu verändern, sei in den letzten Jahren und Jahrzehnten bei den regierenden Parteien jedoch verlorengegangen. Das prangert sie an und suggeriert, mit den Grünen werde das besser:
Die Politik der letzten Jahre stand eher für das Gegenteil. War geprägt von Mutlosigkeit und einem zaghaften Auf-Sicht-Fahren statt Weitblick. Als könnten wir trotz fundamentaler globaler Veränderung, trotz eines Auseinanderdriftens der Gesellschaft im Grunde so weitermachen wie bisher. Als könnten wir uns weiter irgendwie durchmogeln, mit kleinen Korrekturen hier und da, im Zweifel ein Hilfspaket auflegen – wenn der Schaden da ist und der Druck akut.
Annalena Baerbock: Jetzt, S. 12
Die Botschaft lautet dementsprechend: yes we can. Wir müssen nur die Ärmel hochkrempeln und anpacken (was die letzten Regierungen schlicht versäumt haben), und schon geht es voran und alles wird anders.
Alles wird anders? Nun, nicht ganz. Im großen „Systemstreit“ zwischen Markt und Staat versucht Baerbock, sich vornehmen zurückzuhalten. Markt sei schon wichtig, so erfahren wir bei ihr, denn er schaffe Innovationen und die seien wichtig, um der Klimakrise zu begegnen. Aber die Märkte brauchen Regeln, damit sie sich zum Besseren auswirken:
„Dogmatische Kampfaufstellungen wie Markt gegen Staat, Kapitalismus gegen Klimaschutz, Verzicht gegen Konsum bringen uns daher nicht weiter.“
Das ist nun, wie so einiges in ihrem Buch, nicht ihre eigene Idee. Bereits die Gegenüberstellung der Begriffe ist die übliche Litanei. Auf der einen Seite stehen Markt, Kapitalismus und Konsum. Auf der anderen hingegen der Staat, der Klimaschutz und der Verzicht. Auf diese Weise wird nicht nur suggeriert, der Staat stehe außerhalb des Kapitalismus und sei unabhängig vom Wirken des grandiosen Marktes. Es wird zugleich unterstellt, eine Einschränkung von Marktwirkungen müsse mit einer Stärkung des Staates einhergehen und die Alternative zum freien Warenverkehr sei der individuelle Verzicht. Damit bedient Baerbock selbst die Klaviatur, die ihr am Ende zum Verhängnis wird.
Denn tatsächlich gehören Markt und Staat gar nicht zwei Universen an, sondern sind beide Teil eines „Systems“, ob man es nun Marktwirtschaft nennt oder Kapitalismus. Dieses System braucht notwendigerweise die Instanz, die allgemeinverbindliche Rahmenregelungen setzt und Selbstverständlichkeiten garantiert. Um das an einem Beispiel festzumachen: Das gilt etwa für die Regelung, was Eigentum bedeutet. Und dass durch dieses Recht auch die Zerstörung der Sache beinhaltet – fatal, wenn es sich dabei um Naturzerstörung handelt.
Der vermeintliche Systemstreit, den Baerbock mit ihrer Figur des „Best of both worlds“ überwinden möchte, ist gar keiner. Und anvisierte Veränderung fällt dann auch dementsprechend gering aus: nur was sich bequem mit den Anforderungen von Markt und Staat verbinden lässt, kommt als Lösung für die Klimakrise in Frage. Alle anderen Optionen wie etwa die Stärkung gesellschaftlicher Selbstorganisation oder die grundlegende Zurückdrängung der Verfügungsmacht über menschliche Arbeit und Naturressourcen kommen gar nicht in Betracht.
Stattdessen sollen die Imperative des Marktes ausgedehnt und von staatlichen Rahmenregelungen flankiert werden. So etwa, wenn Baerbock eine Integration von Umweltschäden in die Bilanzen der Unternehmen vorschwebt. Das klingt auf den ersten Blick plausibel, denn schließlich ist die Externalisierungslogik des kapitalistischen Profitstrebens eine zentrale Ursache für die Naturzerstörung: alles, was nicht in den Zahlen des Unternehmenserfolgs aufgeht, wird ignoriert. Was läge da näher als einfach alle die Dinge, die der Gesellschaft wichtig sind, per staatlichem Dekret in diese Zahlen zu integrieren?
Das Problem ist nur: es wird nicht funktionieren. Denn der Praxis der Unternehmen liegt die grundsätzliche Haltung zugrunde, alle Dinge instrumentell zu behandeln. Daran ändert auch die Integration von Umweltschäden in die eigene Bilanz nichts. Von der Frage der globalen Konkurrenzsituation einmal abgesehen (wer erhält dadurch im globalen Wettbewerb Vor- und wer Nachteile?) liegt hier nichts näher, als sich manipulativ und instrumentell zu den Zahlen zu verhalten und das naturschädigende Verhalten auf Bereiche umzuleiten, die nicht von den staatlichen Regelungen erfasst sind. Auf diese Weise beginnt ein Wettlauf von auf eigeninteressierten Unternehmen und staatlicher Rahmensetzung, den wir bereits im keynesianisch abgesicherten Kapitalismus des 20. Jahrhunderts und in dessem planwirtschaftlichen Pendant in Osteuropa beobachten konnten.
Ein Bruch mit den herrschenden Verkehrsweisen der warenproduzierenden Moderne ist hingegen nicht angedacht. Das Alte soll lediglich etwas aufgehübscht und mit der Hoffnung verkauft werden, am Ende sei doch alles ohne großen Bruch möglich. Was leichter fällt, wenn sich alle Beteiligten einbilden, das sei bereits der große Bruch.
Ganz in diesem Sinne gelten ihr dann auch E-Mobilität und CO2-neutrale Produktion als zukunftsweisende Innovationen. Eine verkehrspolitische Wende, die sich vom universalen Vorrang des Individualverkehrs verabschiedet und stattdessen auf Bus, Bahn und Rad setzen würde, ist dann gar nicht mehr so dringend. Und der Mythos der CO2-Neutralität, den Baerbock nicht nur am Beispiel der Flugbranche bemüht, zeigt die Crux des kapitalistischen Naturmanagements. Denn der einzelne Flug ist ja nicht in dem Sinne „neutral“, dass da keine Schadstoffe ausgestoßen werden. Es wird vielmehr Geld für Reparationszahlungen an anderer Stelle ausgegeben, sodass die globale Naturvernutzung weiter ansteigen kann, jetzt aber rein bilanztechnisch weniger auffällt.
Die Probleme, die etwa an der Giga-Factory von Tesla hängen, die gerade in der unmittelbaren Nachbarschaft von Baerbocks Wohnsitz gebaut wird, sind ihr dann entsprechend auch keine längere Diskussion wert. Das E-Auto muss die Lösung sein, denn sonst klappt’s halt mit dem Kapitalismus und der Klimarettund doch nicht. Da müssen wir über alle störenden Randaspekte schweigen. Augen zu und durch.
Daher erteilt Baerbock auch dem Fundamentalismus früher grüner Tage eine Absage. Es gehe nicht darum, radikal auf dem Standpunkt des Planeten zu stehen, sondern machbare Lösungen zu finden, die sich auch umsetzen lassen. Machbare Lösungen finden heißt dann aber immer: Lösungen, die mit der herrschenden Wirtschaftsform kompatibel sind. Von den wenigen, die dann übrigbleiben, wählt Baerbock die klimafreundlichsten aus und hofft, dass das reichen werde. Das freilich ist eher unwahrscheinlich.
Annalena Baerbock: Wie wir unser Land erneuern
2021 | 1. Auflage
256 Seiten
Ullstein (Verlag)