Zins Zinskritik
Die Ideologie von der "natürlichen" Wirtschaft. WikiCommons

Kritik an der Zinskritik Silvio Gesells und seiner Epigonen

Beitrag von Wilfried Jannack

„Permakultur-Aktivist Jochen Koller steht den Ideen der antisemitischen Anastasia- Bewegung nahe. Bei Querdenken Kempten bezog er sich auf den rechten Kapitalismuskritiker, Sozialdarwinisten und rassistischen Eugeniker Silvio Gesell.“

So lautet die Bildunterschrift von „Allgäu rechtsaußen“ zu einer Querdenker-Veranstaltung im September 2020

Silvio Gesell – ein Star seit mehr als 100 Jahren

Nicht in allen Medien kommt die Freiwirtschaftsbewegung so schlecht weg wie bei Allgäu rechtsaußen. Am 16.3.2020 wurde vom SWR2 die Sendung „Johann Silvio Gesell – Vordenker einer gerechten Gesellschaft ausgestrahlt.

Was der Dokumentation fehlt, das ist die Kritik an der Vorstellung einer auf „gerechtem Tausch“ basierenden „gerechten Gesellschaft“, auf die die Freiwirtschaft abzielt. Zwar kritisiert die Freiwirtschaftstheorie den Kapitalismus. Diese Kritik bleibt jedoch kapitalismusimmanent. Die Kritik an der Zinskritik der Freiwirtschaft zeigt auf, dass es sich um eine verkürzte Kapitalismuskritik handelt. Diese Kritik zu leisten, hätte die Macher*innen wohl überfordert. Sie hätte ein kritisches Verständnis der kapitalistischen Produktionsweise vorausgesetzt. Aus dem Hype um die Freiwirtschaft folgere ich, dass die Menschen dem realexistierenden Kapitalismus misstrauen, nach anderen Wegen suchen und – zunächst einmal logisch – Systemfehler repariert haben wollen.

Die Freiwirtschafter*innen scheinen das anzubieten, deshalb finden sie relativ viel Aufmerksamkeit. Vorweg: Die Vorstellungen der Geldheiler*innen und Zinskritiker*innen sind unsinnig. Bei einer Kritik an ihnen muss jedoch unterschieden werden zwischen früher und heute. Gesell selber wollte vor 100 Jahren den Kapitalismus befeuern: „einen neuen Manchester-Kapitalismus“. Die heutigen Epigonen wollen den Kapitalismus bremsen. Deshalb treiben sie sich bei Degrowth-Kongressen, bei Attac, bei Occupy, aber auch in progressiven Kirchengemeinden herum und versuchen dort Tauschringe und Komplementärwährungen zu etablieren.

Silvio Gesell – Räterevolutionär und Freiwirtschaftstheoretiker

„Gesell wurde am 17.3.1862 im Eifelstädtchen Sankt Vith geboren. Seine Biographie ist typisch für die Geschichte und die sozialen Bedingungen im heute belgischen, damals zur Rheinprovinz gehörenden Grenzgebiet. Das siebte von neun Kindern eines protestantischen preußischen Beamten und einer katholischen wallonischen Lehrerin besuchte das Gymnasium in Malmedy. Später musste er es verlassen, da „das tausendmal verfluchte Geld“ zum Schulbesuch nicht reichte“ (Ralf Höller in „Ruhendes Geld muss verrosten, verschimmeln, verfaulen“, FR 11.04.2019) zum 100. Geburtstag der Münchner Räterepublik.

Silvio Gesell war eine schillernde Persönlichkeit. Unter anderem war er in der ersten Münchner Räterepublik (4.-15.4.1919) für die Finanzen zuständig und versuchte dort bereits seine Theorie in Praxis umzusetzen. Vom Gericht wurde er im Gegensatz zu vielen anderen freigesprochen. In der Weltwirtschaftskrise sorgte er 1932/33 in Tirol für ein Experiment, das als Wunder von Wörgl bezeichnet wird. Mal als Anarchist, mal als Revolutionär, mal als Kaufmann, mal als Lebensreformer auftretend suchte er Kontakt zu Lenin wie auch zu Nazis wie Hjalmar Schacht und Gottfried Feder.

Sein Buch „Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld“ erschien 1919. Gesell war Anhänger Proudhons. Seine Wahlverwandtschaft zu Rudolf Steiner wird von der Silvio-Gesell-Gesellschaft hervorgehoben. John Maynard Keynes sollte sich später auf Gesell beziehen, was Gesells Anhänger*innen heute noch herausstreichen. Was heißt das für Keynes‘ Theorie?

Zur Freiwirtschaftstheorie

Die Theorie vom Freigeld ist ziemlich simpel. Das umlaufende Geld wird mit einer Umlaufgebühr von 5,2 % pro Jahr belastet („Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld“, 1920, S. 273, andere Veröffentlichungen nennen andere Zinssätze). Dadurch verschwindet das Geld nach und nach – es wird eben „Schwundgeld“. Die Halter*innen des Geldes sind bemüht, ihr Geld loszuwerden und es in Umlauf zu bringen. Auch verschiedene Regionalwährungen arbeiten heute mit diesem „rostenden Geld“ (Gesell). Anhänger der Theorie Gesells sprechen auch vom „neutralen Geld“. Er selber nennt es „Freigeld“. Mit dem neutralen Geld, so die Annahme, könnten die vier Katastrophenszenarien gebändigt werden, die das „Menü des Spätkapitalismus ausmachen“: die ökonomische, ökologische, soziale und finanzielle Katastrophe so Norbert Olah in „Gerechtigkeit ist wettbewerbsfähig! Neutrales Geld als innovative Finanzdienstleistung“ (in: Büchergilde-Essayband, „Chancengleichheit, Sozialpartnerschaft, Gerechtigkeit – Werte mit Zukunft?“, 2001). So gesehen wäre das Freigeld eine Wunderwaffe, um aus dem bösen Kapitalismus eine menschenfreundliche Marktwirtschaft zu machen.

Norbert Olah ist Zinskritiker von heute. Die derzeitigen Anhänger versammeln sich beispielsweise in der Initiative Natürliche Wirtschaftsordnung (INWO) und um die Zeitschrift „Humanwirtschaft“. Die Zahl der Organisationen, Zeitschriften, gar Parteien, die der Freiwirtschaft zuzuordnen ist, ist damit lange nicht erschöpft.

Freiwirtschafter*innen unterschieden gerne die gute Marktwirtschaft vom schlechten Kapitalismus. Für den Zinskritiker Arno Gahrmann ist – in „Wir arbeiten und nicht das Geld“ (2013) – das Begriffspaar „Wirtschaft“/„wirtschaften“ positiv und der Begriff „Ökonomie“ negativ besetzt. Gahrmann verweist darauf, dass es zu „Ökonomie“ nicht mal ein entsprechendes Verb geben würde. „In der Ökonomie dominiert die Quantität, in der Wirtschaft der Mensch“ (ebd.: 36), so sein Credo.

Daraus ergibt sich – immer der Logik der Freiwirtschaft folgend – diese Gegenüberstellung:

gerecht / positivungerecht / negativ
MarktwirtschaftKapitalismus
Wirtschaft/ wirtschaftenÖkonomie / –
RealwirtschaftFinanzwirtschaft
ArbeitseinkommenBesitzeinkommen
Übersicht: Vorstellungen von Gerechtigkeit in der Freiwirtschaftstheorie

Die Nazis unterschieden in ähnlicher Weise „schaffendes Kapital“ und „raffendes Kapital“. Die historische Freiwirtschaft der 1920er/30er-Jahren hat eine deutliche Nähe zum NS. Zurecht bezeichnen Kritiker*innen die Idee als „offen nach rechts“ (siehe das Eingangszitat). Peter Bierl hat 2012 das bemerkenswerte Buch „Schwundgeld, Freiwirtschaft und Rassenwahn“ herausgegeben. Es ist zu Recht untertitelt mit „Kapitalismuskritik von rechts: Der Fall Silvio Gesell“. Direkte antisemitische Ausfälle Gesells sind nicht überliefert. Man geht davon aus, dass er wohl antisemitisch war, wie ein Großteil der damaligen Lebensreformer, jedoch kein expliziter Rassentheoretiker. Allerdings hatte die Lebensgemeinschaft Eden, in der Gesell zuletzt lebte, bereits 1916 (!) eine Arier-Vorschrift für die Mitgliedschaft festgeschrieben. Sozialdarwinismus, Eugenik („der Teufel soll die Kranken holen“) und Frauenfeindlichkeit gehörten bei Gesell allerdings sehr wohl dazu. Die heutigen Epigon*innen distanzieren sich halbherzig, ohne diese Vergangenheit grundsätzlich aufzuarbeiten.

Kritik an Zins-Kritik und Co.

Um gewinnorientiert wirken zu können, ist es für Unternehmer*innen oft notwendig, Kredite aufzunehmen und so die Mittel zu erstehen, die die Produktion anschieben oder in Gang halten. Aus dem Verkaufserlös der Waren werden neben den direkten Arbeitskosten, den Kosten für die Erneuerung der Betriebsausstattung und dem Gewinn der Eigentümer*innen auch die Kosten für den Kredit beglichen. Einen Teil des Mehrwerts bekommen die Gläubiger*innen zurück, die durch den Kredit den Profit erst ermöglicht haben.

Zinskritiker*innen drehen diesen Zusammenhang um: Sie argumentieren, ohne Zins gäbe es die Notwendigkeit zur kapitalistischen Gewinnerwirtschaftung und damit den Wachstumszwang nicht.

„Zins und Zinseszins sind (nach der Freiwirtschaftstheorie) die Ursache nicht nur für die Verschuldungsspiralen der öffentlichen und privaten Haushalte, sondern haben zudem Wirtschaftswachstum und Ausbeutung zur Folge: um die Zinsen bedienen zu können, seien Unternehmen darauf angewiesen, sich dem Willen des Geldes zu beugen und ihre Unternehmenspraxis auf Profiterwirtschaftung umzustellen. Als Ausweg wird dann zumeist eine Geldreform anvisiert, durch die das Geld mittels negativer Zinsen entwertet werden soll.“

Julian Bierwirth: Kritik und Affirmation

Zinskritiker*innen versuchen ihre Vorstellung von der unheilbringenden Wirkung des Zinses oft durch simple Rechenbeispiele plausibel zu machen. Hinter den Rechnungen stehen fragwürdige, nicht hinterfragte Annahmen.

Oft bemühen die Freigeld-Fans den sog. Josephspfennig: „Wenn Joseph zu Jesu Geburt einen Pfennig zu 3, 4 oder 5 % angelegt hätte, was wäre daraus geworden?“ Das ist eine geometrische Reihe wie die Schachlegende, mathematisch gesehen: Zinseszinsrechnung, exponentielles Wachstum.

Die Mathematik bildet nicht von sich aus eine Theorie über die ökonomischen Zusammenhänge. Sie kann nicht erklären, woher das Wachstum kommt, ob es sich tatsächlich um Zins handelt oder ob es um Profit geht. Woher kommt dieses ES (= Zins oder Profit)? Entsteht ES in der Produktion über Mehrwertaneignung? Oder: Entsteht ES, weil jedes konsumierte Produkt Zinsen enthält (was die Zinskritiker*innen behaupten)? Unüberlegt wird das exponentielle Wachsen herangezogen und damit gerechnet: Zins = 1,052021. Man errechnet irgendwas, ohne vorher gründlich bestimmt zu haben, was ES überhaupt ist.

Wenn die Zinskritiker*innen zu Recht die ökonomische Konzentration kritisieren, so bleiben sie mit ihrer Kritik an der Oberfläche. Die wesentliche Kritik, die stattdessen geleistet werden müsste, richtet sich gegen die Akkumulationslogik des Kapitals. Mehrwert muss zuerst aus menschlicher Arbeitskraft gewonnen werden. Dann muss das in Warenform vorliegende Kapital realisiert, sprich: komplett in Geldform umgewandelt werden. Während in vorkapitalistischen Gesellschaften die Verfügenden das Mehrprodukt restlos aufgezehrt haben, wird im Kapitalismus ein Teil des Profits in die Ausdehnung der Produktion investiert. Der Konkurrenzdruck zwingt zu ständiger Innovation. In der Folge wird der Produktionsprozess, wo es möglich ist, immer produktiver. Wer bei Innovationen nicht mithalten kann, fliegt aus dem Markt, weil sie/er zu teuer ist.

Die Profitakkumulation wächst laut Marx mittels einer Akkumulationsrate exponentiell. Dabei ist vorausgesetzt, dass es (1) unter bestimmten Annahmen abstrahiert und eingeschränkt wird. So gelte, dass die Gesellschaft nur aus zwei Klassen besteht, dass die Produktivität unverändert bleibt, dass das Verhältnis von menschlicher Arbeitskraft und Maschineneinsatz unverändert gehalten wird und dass (2) die Akkumulation in der Realität durch Überproduktion und Unterkonsumtion immer wieder unterbrochen wird (kein Gleichgewicht).

Im Gegensatz dazu ist die Zinseszinsrechung mit Josephs Pfennig nur eine Klamauknummer wie der aus dem Hut gezauberte weiße Hase. Sie zielt auf den Effekt ab, erklärt aber nicht die dahinterstehenden Prinzipien.

Das Gesellschaftsbild der Zinskritik

Gesell hat seltsame Vorstellungen vom Kapitalismus. Über den Lohn schreibt er beispielsweise:

„Lohn, das ist der Preis den der Käufer (Unternehmer, Kaufmann, Fabrikant) für die ihm vom Erzeuger (Arbeiter) gelieferten Waren zahlt … Waren kaufen heißt aber Waren tauschen; die ganze Volkswirtschaft löst sich so in einzelne Tauschgeschäfte auf, und alle meine Begriffe: ‚Lohn‘, ‚Wert‘, ‚Arbeit‘ enthüllen sich als vollkommen zwecklose Umschreibungen der beiden Begriffe ‚Ware‘ und ‚Tausch

Silvio Gesell (zitiert nach Nadja Rakowitz:: Religion des Vulgären)

Die gesellschaftlichen Beziehungen lösen sich bei Gesell in Tauschbeziehungen auf. Die Individuen sind einfache Warenproduzent*innen. Sie verkaufen, auch als Lohnabhängige, zwar besondere Waren, nicht aber ihre Arbeitskraft als Ware. Dass Unternehmer*innen hinterher mehr haben, muss wohl an deren Fleiß oder Geschick liegen.

Die Gesellschaftsutopie der Freiwirtschafter*innen ist charakterisiert

  • durch Äquivalententausch in einfacher Warenproduktion (Ware-Geld-Ware) (tatsächlich gilt Geld-Ware-Geld+, Geldkapital ist im realen Kapitalismus der Ausgangs-, Endpunkt und Selbstzweck, so kommt es zu dieser ständigen Suche nach Anlagemöglichkeiten;);
  • durch das individuelle Privateigentum an Produktionsmitteln bei allen Arbeiter*innen samt dem dazugehörenden Klitschen-Paternalismus (tatsächlich ist die unterstellte „gerechte“ Gleichverteilung durch den Konzentrationsprozess des Kapitals gar nicht gegeben, im Gegenteil: dieser setzt sich in Zeiten des Plattformkapitalismus noch zugespitzter fort);
  • durch eine Lohnarbeit, die scheinbar „gerecht“ ohne Ausbeutung vor sich geht,
  • durch Wettbewerb und Konkurrenz als angeblich positive Anreizmechanismen,
  • mit Fixierung auf Geld als Tauschmittel.

Weil die Tauschbeziehungen (das Zirkulieren des Geldes) für diese Gesellschaftsutopie zentral sind, nennt Nadja Rakowitz dies eine „zirkulationistische Utopie“:

„Im Geld als Zirkulationsmittel hat die zirkulationistische Utopie dingliche Gestalt angenommen.“

Nadja Rakowitz: Religion des Vulgären

Geld ist für die Zinskritiker*innen ein Ding. Die darin liegenden gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse gelten der Freiwirtschaft dagegen nichts. Die Ideologie der Zinskritik ist keine Kapitalismuskritik.

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