Fabian Scheidler: Der Stoff aus dem wir sind

Der Stoff, aus dem die Ware ist

Fabian Scheidler hat mit Der Stoff aus dem wir sind eine große Erzählung über die Geschichte des gesellschaftlichen Naturverhältnisses vorgelegt. Dabei bringt er die Geschichte der Naturwissenschaften mit der Herausbildung und Durchsetzung der kapitalistischen Gesellschaftsformation in Verbindung. Das Ergebnis lohnt sich zu lesen.

Die Kernthese des Buches ist schnell erzählt. In der Neuzeit entstanden nicht nur die modernen Naturwissenschaften – zeitgleich setzte sich auch eine neue Form der sozialen Beziehungen durch: Eine waren- und geldbasierte Ökonomie.

Die modernen Naturwissenschaften basierten im Wesentlichen auf einer radikalen Trennung: Die den Menschen umgebende Umwelt wurde nicht länger als etwas wahrgenommen, womit Menschen in Beziehung stehen oder das gar beseelt ist. Sie wurde stattdessen zum Objekt der menschlichen Zurichtungswünsche.

Scheidler fasst diese Objektivierung in drei Kategorien: Natur, die von den Wissenschaften erfasst werden soll, muss (1) berechenbar, (2) zergliederbar und (3) beherrschbar sein. Um das zu erreichen, konzipieren die Naturwissenschaften der Neuzeit die Natur als etwas, das gänzlich auf mechanistische Weise funktioniert. Alles reagiert nach einem Reiz-Reaktions-Schema, auf einen Stoß folgt eine Bewegung, auf eine Ursache eine Wirkung.

Dieses Schema ist auch notwendig, denn die moderne Naturwissenschaft unterstellt zunächst Gott als allmächtigen Uhrmacher, der die Welt als perfekte Maschine geschaffen habe. Später wurde Gott aus der Gleichung herausgestrichen und durch blind wirkende (evolutionäre) Kräfte und Prinzipien ersetzt. In der Sache, so Scheidler, hat das aber nichts geändert, denn die Menschen erscheinen weiterhin als abhängige Teile einer Gesellschaft, die sich ihnen gegenüber verselbstständigt hat.

Und das hat sie tatsächlich. Denn gleichzeitig mit der mechanistischen Naturwissenschaft bildete sich die Geld- und Warenökonomie heraus. Zu ihr passte diese Vorstellung von naturwissenschaftlichen Selbstverständlich- und Abhängigkeiten einfach zu gut.

Es handelte sich also um eine Art Wahlverwandtschaft, die die mechanistische Wissenschaft und die liberale Philosophie in der Neuzeit eingegangen sind. Denn alle zentralen politischen und ökonomischen Konzepte beruhen seit dieser Zeit auf der Vorstellung von Ursache und Wirkung, von aufeinanderprallenden Interessen und sich daraus ergebenden Folgen. So erscheint die Welt, trotz aller Verselbstständigung, immer noch im Kern als potenziell beherrschbar. Alles, was es dafür brauche, so die herrschende Ideologie, ist etwas mehr von dem bisherigen: ein bisschen mehr ökonomische Steuerung, ein bisschen mehr politischer Gestaltungswille, ein bisschen mehr Technik und Naturbeherrschung – und dann wird alles gut. Bestimmt.

Die Naturwissenschaften haben ihre eigene Beschränktheit längst erkannt

Oder halt auch nicht. Denn die Naturwissenschaften sind, wie Scheidler sehr eindrücklich zeigt, gar nicht so dumm wie der Kapitalismus. Sie haben die Grenzen des mechanistischen Paradigmas bereits früh erkannt und sind darüber längst hinaus.

In der Physik wird über Quantenfelder und „dunkle Materie“ diskutiert, in der Biologie hat sich die Selbstorganisation aufgemacht, zu einem zentralen Prinzip zu avancieren und auch in Bezug auf die menschliche Kommunikation wissen wir nicht zuletzt dank der humanistischen Psychologie, dass hier nicht alles so rational zugeht, wie Mr. Skinner das vermutet hatte.

Alleine, so Scheidler, kümmert das im politischen und ökonomischen Establishment niemanden. Hier werden noch immer Lösungen gesucht, die dem alten mechanistischen Paradigma folgen. Er spricht daher von einer „technokratischen Mythologie“, die „alle Lebensbereiche durchzieht, von der Medizin über die Ökonomie und die digitale Sphäre bis zum ,Geo-Engeneering’. Da liegt vor allem daran, dass diese Ideologie eng mit der wirtschaftlichen und politischen Organisationsweise unserer Gesellschaft zusammenhängt und sich von ihrer Entwicklung nicht trennen lässt.“ (S. 138).

Scheidler wendet also nicht, wie das beispielsweise in esoterischen Zirkeln gern getan wird, eine mythisch-reaktionäre Kapitalismuskritik gegen die moderne Wissenschaft. Er stellt sich stattdessen auf den (zugegeben: von ihm proklamierten) Stand der Wissenschaft und stellt die Frage, warum sich bestimmte wissenschaftliche Erkenntnisse so schwertun, im gesellschaftlichen (Selbst-)Bewusstsein anzukommen.

Die Antwort liegt auf der Hand: würden die aktuellen naturwissenschaftlichen Befunde ernstgenommen, dann wäre die herrschende Gesellschaftsordnung nicht länger haltbar. Sie würden eine gänzlich neue Sicht auf die Welt, auf uns als Menschen, auf unsere Beziehungen zueinander und unsere Beziehungen zu der uns umgebenden “Umwelt” bedingen. 

Fabian Scheidler versammelt in Der Stoff, aus dem wir sind eine ganze Reihe von Argumenten, warum wir das tun sollten. Das Buch zunächst mal zu lesen, kann uns dabei helfen. Was ich hiermit nahelegen möchte.

Das Buch

Fabian Scheidler
Der Stoff aus dem wir sind
Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen
Piper Verlag
München 2021

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