Imperialismus: Die Herrscher der kapitalistischen Großmächte teilen sich bei der Kongo-Konferenz den Globalen Süden untereinander auf. Wikimedia

Leben wir in einem imperialistischen Zeitalter?

In der aktuellen linken Diskussion zu den Hintergründen des Ukraine-Krieges wird oft die NATO als imperialistisches Militärbündnis ins Spiel gebracht. Doch was soll das überhaupt sein, dieser Imperialismus? Dieser Beitrag versucht, einige Annahmen in Bezug auf diese Fragestellungen zu präzisieren.

[Teil 2 des Textes findest du hier.]

Imperialismus war gestern

Der Begriff „Imperialismus“ versucht, die globale kapitalistische Ökonomie als Folge eines Aufeinanderprallens unterschiedlicher „Imperien“ zu deuten. Der Begriff entstammt der Konfrontation kapitalistischer Staaten im 19. Jahrhundert, als diese tatsächlich versucht hatten, den Einfluss auf die Arbeitskraftreservoirs und die Rohstoffe ganzer Weltregionen dadurch zu sichern, dass sie diese militärisch unter ihre Kontrolle brachten. Die Abgrenzung vom Kolonialismus wird dabei häufig in der Tatsache gesehen, dass im Zeitalter des Imperialismus die Aufteilung der Welt unter die kapitalistischen Nationen bereits vollzogen wurde und es nunmehr ausschließlich um die Neuverteilung der Herrschaftsansprüche über die jeweiligen Weltregionen gehe. 

Beispielhaft schreibt etwa Felix Bartels in einem vielbeachteten Text in der Jungen Welt:

“Das wichtigste Merkmal, das Lenin zur Erklärung des imperialistischen Kriegs anführt, ist die Aufteilung der Welt. Oder vielmehr ihr Aufgeteiltsein. Imperialismus entsteht, wo die koloniale Epoche abgeschlossen ist, in der die fortgeschrittenen Mächte fremde Gebiete noch durch »Entdeckung« erobern konnten. Irgendwann ging es, amerikanisch gesprochen, nicht mehr weiter nach Westen. ,Die Welt’, schreibt Lenin, ,hat sich zum ersten Mal als bereits aufgeteilt erwiesen, so dass in der Folge nur noch Neuaufteilungen in Frage kommen, d. h. der Übergang von einem ›Besitzer‹ auf den anderen, nicht aber die Besitzergreifung herrenlosen Landes.’ Diese Neuaufteilung drängt sich nach Lenin deswegen immer wieder auf, weil die Entwicklung des Kapitalismus in seiner monopolistischen Phase ungleichmäßig abläuft.”

Felix Bartels: Daheim ist, wo der Hauptfeind steht

Das also steckt hinter der Vorstellung vom Imperialismus: es gibt “fortgeschrittene Mächte”, die sich mittels “Neuaufteilung” ganzer Weltregionen den Zugriff auf “fremde Gebiete” sichern wollen. Mit anderen Worten: die globale Ökonomie lässt sich im wesentlichen dadurch kennzeichnen, dass souveräne staatliche Akteur:innen in Konkurrenz zueinander versuchen, sich die Welt zu unterwerfen. 

Diese Karikatur von Edward Linley verdeutlicht, worum es beim Imperialismus gehen soll.

Diese Perspektive muss freilich zwei zentrale Aspekte des globalisierten Kapitalismus im 21. Jahrhundert ignorieren. Das eine ist der Namensgeber dieses Kapital-ismus: das Kapital. Denn das polit-ökonomische Weltgeschehen geht keineswegs im Gegeneinander souveräner Nationen auf, vielmehr haben diese ihre Vormachtstellung (so sie diese denn je innehatten) schon längst an den Primat eines selbstbezüglichen Systems abgegeben, bei dem aus einem Euro zwei gemacht werden sollen.

Im Zuge dieses Prozesses hat sich auch das Verhältnis der Nationalstaaten zu den jeweiligen kapitalistischen Unternehmungen verändert. In der Aufstiegsphase des Kapitalismus bildeten der Staat und die ihm als zugehörig gedachte Nation den Ausgangspunkt der kapitalistischen Akkumulation. Die geschäftstüchtigen Einzelkapitale brauchten den geschützten Rahmen des nationalen Staates, um überhaupt ein funktionierendes Geschäft auf die Beine stellen zu können. Der Staat stellte vergleichbare Verwertungsbedingungen im Inneren her und schützte “seine” Kapitale zudem vor ungemütlicher Konkurrenz im Außen. Noch bis in die 1970er-Jahre hinein beschränkte sich das Engagement der nationalen Kapitale im Ausland dann auch auf eine Erweiterung der heimischen Produktion (in der BWL wird deshalb auch von “Erweiterungsinvestitionen” gesprochen). 

Seit dieser Zeit hat sich der Charakter des Kapitalexports verändert. Es geht nun zunehmend weniger um Erweiterung der heimischen Machtposition, sondern um eine Verlagerung der bisher inländischen Produktion ins Ausland. 

“Das ist ein entscheidender Unterschied zum alten Kapitalexport nach dem mechanistischen Baukastenprinzip, wie er noch in einer globalen Expansionsbewegung stattfinden konnte. Und genau in dieser hauptsächlichen Rationalisierungsfunktion besteht die neue Qualität.”

Robert Kurz: Das Weltkapital, S. 85

Eine Folge dieser Entwicklung war die Transnationalisierung des Kapitals, d.h. die Entflechtung der ursprünglichen Zugehörigkeiten von nationalen Kapitalen und Nationalstaaten. Letztere bestehen zwar immer noch, erstere haben sich aber längst von ihnen losgelöst und verselbständigt. Das war der Hintergrund der Globalisierungsdebatte, die zu Beginn der 2000er-Jahre geführt wurde. Robert Kurz hat diesen Zusammenhang sehr treffend auf den kritischen Punkt gebracht:

“Hier wird ein aus der Transnationalisierung des Kapitals entstehender neuer Widerspruch zwischen dem betriebswirtschaftlichen Kalkül und der nationalökonomischen Logik der politischen Administration deutlich: Während letztere auf die nationale Handels- und Kapitalbilanz fixiert bleiben muss, bezieht sich ersteres bereits auf eine ganz andere Ebene, auf der jene Waren- und Kapitalströme, die vom staatlichen Standpunkt aus als Import oder Export erscheinen, sich als betriebswirtschaftliche Binnenbewegung darstellen.”

Robert Kurz: Das Weltkapital, S. 101

Eine polit-ökonomische Identität von Staat und Wirtschaft kann daher heutzutage beim besten Willen nicht mehr behauptet werden. Das lässt aber auch die Vorstellung vom Imperialismus, der “seine” Ökonomie stärken möchte, einigermaßen veraltet erscheinen. Die ist aber die Grundlage des klassischen Imperialismusbegriffes.

Ein anderer Punkt, an dem sich die klassische Vorstellung vom Imperialismus mit der heutigen ökonomischen Realität beißt, sind die globalen Verflechtungen nicht nur der Eigentums-, sondern auch der Handelsstrukturen. Im Unterschied zum Kalten Krieg und von wenigen Ausnahmen abgesehen treiben alle Beteiligten Handel miteinander. Wozu braucht es einer direkten gewaltvollen Einflussnahme, wo dies doch Jahrzehntelang mit Strukturanpassungsprogrammen ganz gut funktioniert hat? Auch aus der Perspektive der EU ist z.B. einer Peripherie im Osten, die nicht in das Bündnis integriert ist und daher auch nicht an europaweite Sicherheits-, Sozial- und Umweltstandards gebunden ist, ökonomisch von Vorteil. Dementsprechend groß ist dann auch der Widerstand gegen neue Beitritte, die in aller Regel von den Beitrittskandidat:innen selbst und nicht von der EU forciert werden.

Wenn wir nun die globale Ordnung nicht mehr als Imperialismus verstehen können – dann wird es schwierig, der NATO als Militärbündnis einen imperialistischen Charakter zuzuschreiben. Dazu wollen wir dann im kommenden Beitrag noch etwas genaueres schreiben.

Und um das schon mal vorwegzunehmen: Damit ist dann freilich andersherum nicht gesagt, dass die NATO nur noch mit Gummibärchen schießen und ein Haufen liebevoller Gutmenschen geworden wäre. Es heißt lediglich, dass ihr Charakter mit der Chiffre “Imperialismus” mehr schlecht als recht beschrieben ist.

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