Mit Community-Kapitalismus haben Silke van Dyk und Tine Haubner eine sehr lesenswerte Analyse der sozialpolitischen Akzentverschiebungen in den vergangenen Jahrzehnten vorgelegt. Sie ist nicht zuletzt deshalb lesenswert, weil sie Fragen der Theoriebildung betrifft, die über die Gesellschaftskritik hinausgehen. Es geht um die Frage, wie wir leben wollen.
Seit den 1980er und 1990er-Jahren macht sich die Krise der Arbeit nicht nur als eine Krise der Staatsfinanzen bemerkbar, sondern vermittelt über diese auch als Krise des Sozialen. Es folgte eine von der Hegemonie des Neoliberalismus beflügelte Debatte um die Notwendigkeit, den Sozialstaat zu reformieren. Schon viel zu lange hätten die Bürger:innen sicht nicht selbstbewusst und aktiv um ihre Daseinsvorsorge gekümmert – und sich stattdessen auf den Staat verlassen. Die Autorinnen zeigen, wie sich das Motto der „Selbst- statt Staatsfürsorge“ im politischen Raum durchsetzt und welche Folgen sich aus ihm für die institutionelle Absicherung des Sozialen ergeben.
Die vorherrschenden politischen Diskurse sprechen die Menschen nun als „unternehmerisches Selbst“ an, als Eigenunternehmer:innen, die sich und ihr „Humankapital“ zu schützen und zu bessern suchen. Doch nicht nur das. Es etabliert sich eine verallgemeinerte Distanz zu den Großorganisationen des Fordismus (zu denen auch die Wohlfahrtsverbände und die staatlichen Sozialprojekte zählen), die zunehmend durch die heimelige Wärme von familiärer und nachbarschaftlicher Zuwendung ersetzt werden soll. Menschen werden nun in ihrer Freizeit aktiv – im Nachbarschaftsverein, auf der Internetplattform nebenan oder in sozial- und gesundheitspolitisch aktiven Vereinen. Dort übernehmen sie zunehmend Funktionen, die aufgrund der prekären Stellenbesetzung der sozialpolitischen Institutionen brachliegen. Dies, so die Autorinnen, führe zu einem „Community-Kapitalismus“, indem sozialpolitische Notwendigkeiten in die private Sphäre kostenloser nachbarschaftlicher Sorge abgeschoben (Roswitha Scholz würde sagen: abgespalten) werden.
Die Autorinnen zeigen, wie sich diese neuen Prinzipien durchsetzen, wie sie den Alltag in sozialpolitischen Instiutionen bestimmen und wie diese neue Organisationsweise auch die (Selbst-)Wahrnehmung der Helfenden und der Umsorgten bestimmt. Sie machen dabei zwei zentrale Probleme aus.
Zunächst, so argumentieren sie, folgt dieser Trend dem neoliberalen Paradigma, das gesellschaftliche Probleme dadurch lösen möchte, dass es die vereinzelten kapitalistischen Warensubjekte in ihrer Vereinzelung anspricht. Diese Vereinzelung wird als Ressource und Chance gedeutet. Daraus entstehe das Problem, dass pflegerische und andere sozialpolitische Bedürfnisse nicht mehr zuverlässigt versorgt werden können – weil sie ja immer auf die Freiwilligkeit von Leuten angewiesen sind, die verständlicherweise mehr Lust haben sich mit freundlichen und ihnen sozial näherstehenden Menschen zu umgeben als mit grisgrämigen, schlechtgelaunten Pflegebedürftigen. Dabei konstruieren sie dies nicht einfach als eine potentielle Notsituation, sondern zeigen mit Äußerungen aus empirischen Interviews, dass diese Tendenz in der Logik der materiellen Organisation des ehrenamtlichen Pflegesektors liegt.
Viele Ehrenamtliche – und das verweist auf den zweiten Problemkomplex, nehmen ihre Tätigkeit als eine Art intergenerationelles Schuldverhältnis wahr. Sie pflegen jetzt in der vagen Hoffnung, später auch einmal gepflegt zu werden. Damit konstitutiert nun aber die Kategorie der „Schuld“ (d.h. der Abhängigkeit von einer später einzufordernden reziproken Leistung) das Selbstverständnis der Pflegenden und der Gepflegten.
Gegen diese von van Dyk und Haubner als Individualisierung sozialer Widersprüche beschriebene Tendenz setzen die Autorinnen das Verständnis von Pflege, Gesundheit und gutem Leben als einem sozialen Recht. Dies habe gesamtgesellschaftlich abgesichert zu werden und bedürfe daher verbindlicher, allgemeingesellschaftlicher Vereinbarungen. Um dies zu gewährleisten schlagen sie vor, an das Konzept der sozialen Infrastruktur anzuknüpfen, das bereits seit einigen Jahren in Teilen der sozialpolitischen Bewegungen diskutiert wird.
Die verbindliche Absicherung, und das stellt nun die Krux der Ausführungen dar, sollen sich in der Vorstellung von Haubner und van Dyk vermittelt über Lohnarbeit und Staat darstellen. Letztlich läuft ihre Argumentation darauf hinaus, dass einzig die Lohnarbeit einen veritablen Zwang darstellt, über den die regelmäßige Übernahme von Care-Tätigkeiten auch wirklich als Menschenrecht verstanden und abgesichert werden könne. Alternativ wären hier (in dem von den Autorinnen aufgespannten Horizont) lediglich staatlich organisierte Zwangsdienste denkbar.
Trotzdem legen sie den Finger in die Wunde und verweisen sehr eindrücklich auf ein Dilemma utopischer und transformatorischer Debatten: wie soll das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit austariert werden, ohne zugleich den Problemen auf den Leim zu gehen, die mit diesen beiden dem bürgerlich-liberalen Diskurs entnommenen Kategorien einhergehen?
Silke van Dyk/ Tine Haubner
Community-Kapitalismus
Hamburg : Hamburger Edition
175 Seiten
ISBN 978-3-86854-354-4