Gehört auf den Dachboden der Geschichte: Wladimir Iljitsch Lenin. unsplash.com

Lenins Sozialismus

Lenin ist wieder en vogue. Theoretiker wie Andreas Malm graben den Anführer der russischen Revolution von 1917 wieder aus. In ihren Augen kann uns Lenin helfen, den Kapitalismus abzuschaffen und den Klimawandel zu bekämpfen. Es bleibt jedoch fraglich, ob Lenin uns heute noch etwas zu sagen hat. Im Gegenteil, mit seinem Arbeitsfetisch und seinem Lob der preußischen Disziplin stand Lenin fest auf dem Boden der kapitalistischen Produktionsweise und der Naturzerstörung.

Ausbeutung als zentraler Widerspruch

Für Lenin ist das Problem der kapitalistischen Produktionsweise nicht die Art der Reproduktion der Menschen oder die Produktionsweise an sich. Das Problem stellt sich für ihn als eins der Ausbeutung dar. Dass den Arbeiter*innen nicht der volle Lohn gezahlt wird, sie also von den Kapitalisten ausgebeutet werden, ist der große Widerspruch des Kapitalismus. Von ihm gehen alle Gemeinheiten und Fehler der Gesellschaft aus. So schreibt Lenin in „Staat und Revolution“ über seine Vorstellung von Sozialismus:

Erst in der kommunistischen Gesellschaft, wenn der Widerstand der Kapitalisten schon endgültig gebrochen ist, wenn die Kapitalisten verschwunden sind, wenn es keine Klassen (d.h. keinen Unterschied zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft in ihrem Verhältnis zu den gesellschaftlichen Produktionsmitteln) mehr gibt – erst dann „hört der Staat auf zu bestehen, und es kann von Freiheit die Rede sein“. Erst dann ist eine tatsächlich vollkommene Demokratie, tatsächlich ohne jede Ausnahme, möglich und wird verwirklicht werden. Und erst dann beginnt die Demokratie abzusterben, infolge des einfachen Umstands, daß die von der kapitalistischen Sklaverei, von den ungezählten Greueln, Brutalitäten, Widersinnigkeiten und Gemeinheiten der kapitalistischen Ausbeutung befreiten Menschen sich nach und nach gewöhnen werden, die elementaren, von alters her bekannten und seit Jahrtausenden in allen Vorschriften gepredigten Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens einzuhalten, sie ohne Gewalt, ohne Zwang, ohne Unterordnung, ohne den besonderen Zwangsapparat, der sich Staat nennt, einzuhalten.

Staat und Revolution, S. 103 (Kleine Bücherei des Marxismus-Leninismus)

Ausbeutung bedeutet hier Mehrwertabschöpfung. Der Staat zwingt die Menschen zur Lohnarbeit, also zur Abgabe des Mehrwerts. Sobald jeder bekommt, was er gearbeitet hat, ist das Zwangsverhältnis zu Ende, und dann arbeiten alle „wie von alleine“ weiter. Zwang durch Staat und Unterdrückung wird nur ausgeübt, weil der Mehrwert abgezwackt wird.

Lenin möchte also eine moderne Gesellschaft mit allen ihren Problemen, nur eben befreit von der Mehrwertproduktion. Das ist der einzige Ansatz für Emanzipation für Lenin.

Bürgerliche Fetischisierung von Gesellschaft bei Lenin

Wie nah Lenin der bürgerlichen Ökonomie ist, zeigt sich an seinen Prämissen. Was ist mit den „elementaren, von alters her bekannten und seit Jahrtausenden in allen Vorschriften gepredigten Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens“ gemeint? Ganz in bürgerlicher Manier wird hier eine fetischisierte Auffassung von Gesellschaft eingeführt. Eigentlich gibt es „natürliche Regeln“ die jeder kennt, die aber vom Kapitalismus mit seiner Mehrwert-Abschöpfung korrumpiert werden. Wird der Mehrwert abgeschafft, kommt der Mensch demnach zum Naturzustand zurück. Es bleibt die Frage, warum die Menschen sich dann daran gewöhnen müssen, wenn es doch sowieso ihr Naturzustand ist. Müsste es nicht einfach sein, zum Naturzustand zurückzufinden?

Scheinbar geht Lenin davon aus, dass eigentlich alle Menschen immer schon diszipliniert und freiwillig viel arbeiten wollen, der Kapitalismus nur den Staat und die Gewalt produziert, um den Mehrwert abzuzwacken, um ausbeuten zu können. Ist die Mehrwertproduktion einmal abgeschafft, werden dadurch auch die Gewalt und der Staat abgeschafft. Die Art der Arbeit und die Arbeitsmoral dahinter werden also nicht hinterfragt. So ist es nur folgerichtig, dass Lenin den Aufbau der preußischen Post als besonders gutes Beispiel für seine Vorstellung von Sozialismus lobt.

Hier wird wieder deutlich, welch bürgerliches Kind Lenin eigentlich ist. Mit Gesellschaft wird sich hier nicht auseinandergesetzt, sie wird einfach, wie bei Adam Smith, vorausgesetzt. Denn es geht auch nicht darum, die Gesellschaft im Ganzen zu verändern, sie soll im Großen und Ganzen so bleiben, nur befreit vom Mehrwert soll sie sein. Der Wert, die Arbeit und somit die Vermittlung zwischen den Menschen bleiben unangetastet.

Während Marx den Produktionsprozess im Kapitalismus im Allgemeinen zutiefst verabscheute, wie im Kapital zu lesen ist, sah Lenin nicht den Produktionsprozess an sich, sondern nur die Abschöpfung des Mehrwerts als das eigentliche Problem. Das, was Marx und später auch Foucault an der Disziplinargesellschaft kritisieren, möchte Lenin gar nicht abschaffen. Im Gegenteil: Die Befreiung von der Ausbeutung des Mehrwerts führe dazu, dass alle nun freiwillig arbeiteten, und es somit keinen Staat mehr brauche, der sie zwingt.

Das ist eine klassische Verdrehung der Realität, von Marx Fetisch genannt. Diese leninsche Freiwilligkeit viel arbeiten zu wollen ist eben genau das, was der Kapitalismus den Individuen erst einbläut und eben keine „elementare, von alters her bekannte“ Vorschrift, wie Lenin meint. 

Disziplin, Militarismus, Arbeitsfetisch und weitere Ausgeburten der Moderne sind somit auch kein Widerspruch zum „real existierenden Sozialismus“, und auch nicht, weil die Führungsriege korrumpiert war. Die Sowjetunion war so, wie sie war, weil es von vornherein so geplant war. Sie war kein Betriebsunfall aufgrund einer machtgeilen Clique (die gab es natürlich auch), sondern die logische Konsequenz daraus, was sich Lenin und seine Entourage unter Sozialismus vorstellten.

Der Unterschied zwischen Kapitalismus und Sozialismus ist für Lenin das Personal, das die Hebel in der Hand hält. Der Prozess an sich wird nicht hinterfragt. Dies würde den Arbeitsprozess sogar noch verbessern. Alles weil es keine Mehrwertabschöpfung mehr gibt:

Unter solchen ökonomischen Voraussetzungen ist es durchaus möglich, unverzüglich, von heute auf morgen, dazu überzugehen, die Kapitalisten und Beamten, nachdem sie gestürzt sind, bei der Kontrolle über Produktion und Verteilung, bei der Registrierung der Arbeit und der Produkte, durch bewaffnete Arbeiter, durch das gesamte bewaffnete Volk zu ersetzen. (Man verwechsle nicht die Frage der Kontrolle und Rechnungsführung mit der Frage des wissenschaftlich ausgebildeten Personals, der Ingenieure, Agronomen u.a.: Diese Herrschaften arbeiten heute und fügen sich den Kapitalisten, sie werden morgen noch besser arbeiten und sich den bewaffneten Arbeitern fügen.)

Staat und Revolution, S. 116

Produktivismus

Was sich hier zeigt, ist ein ausgeprägter Produktivismus. Die Veränderungen des Sozialismus führten laut Lenin zu einem Anstieg der Effizienz. Das heißt, der Sozialismus beschleunigt die Produktion und alle sollten noch besser arbeiten. Fraglich bleibt hier, inwieweit diese Auffassung für aktuelle Strategien hilfreich ist, da heutzutage genau dieser Produktivismus angesichts des Klimawandels zurecht gegeißelt wird.

Hier wird deutlich, was Moishe Postone am „traditionellen Marxismus“ kritisiert hatte: Dass er die kapitalistische Produktionsweise gar nicht abschaffen möchte, sondern seine Produktionsweise, vom Mehrwert befreit, zu sich selbst kommen lassen möchte. Kurz: Lenin kritisiert den Kapitalismus nicht dafür, dass er zu viel produziert: Nein, er kritisiert ihn dafür, dass er es nicht stark genug tut, dass er zu ineffizient ist. So merkwürdig diese Auffassung heute anmutet, so grauselig ist auch Lenins Beschreibung des Sozialismus:

Wenn die Mehrheit des Volkes anfangen wird, selbständig allerorts eine solche Rechnungsführung, eine solche Kontrolle über die Kapitalisten (die nunmehr Angestellte geworden sind) und über die Herren Intellektuellen, die kapitalistische Allüren beibehalten haben, auszuüben, dann wird diese Kontrolle eine wirklich universelle, allgemeine, eine wirkliche Volkskontrolle werden, dann wird man sich ihr auf keine Weise entziehen können, wird man sich vor ihr „nirgends retten“ können. Die gesamte Gesellschaft wird ein Büro und eine Fabrik mit gleicher Arbeit und gleichem Lohn sein.

Staat und Revolution, S. 117

Was nach einer totalitären Dystopie aus einem Sci-Fi-Film a la „Brazil“ oder „1984“ klingt, sieht Lenin hier als Ideal für seine Vorstellung von Sozialismus an. Doch diese „Fabrikdisziplin“ ist für Lenin nicht die letzte Stufe. Denn für ihn sollen sich der Staat und die ganzen Zwangsmaßnahmen, die die Menschen zum Arbeiten zwingen, in späteren Phasen zurückziehen. Aber nicht, weil dann auch weniger oder anders gearbeitet werden soll. Sondern weil sich die Menschen an diese Disziplin ohne einen äußeren Zwang gewöhnen. So, wie es angeblich „seit Jahrtausenden“ schon der Fall war.

Denn wenn alle gelernt haben werden, selbständig die gesellschaftliche Produktion zu leiten, und sie in der Tat leiten werden, wenn sie selbständig die Rechnungsführung und die Kontrolle über Müßiggänger, Herrensöhnchen, Gauner und ähnliche „Hüter der Traditionen des Kapitalismus“ verwirklichen, dann wird das Umgehen dieser vom ganzen Volk durchgeführten Rechnungsführung und Kontrolle unvermeidlich so ungeheuer schwierig werden, eine so höchst seltene Ausnahme bilden und wahrscheinlich eine so rasche wie ernsthafte Bestrafung nach sich ziehen (denn die bewaffneten Arbeiter sind Menschen des praktischen Lebens, keine sentimentalen Intelligenzler und werden kaum mit sich spaßen lassen), daß die Notwendigkeit zur Einhaltung der unkomplizierten Grundregeln für jedes Zusammenleben von Menschen sehr bald zur Gewohnheit werden wird.“

Staat und Revolution, S. 118

In diesem Zitat ist eigentlich alles gesagt, was man über Lenin und seinen Arbeitsfetisch wissen muss. Nicht nur werden die „Müßiggänger“ gegeißelt, nein, sie werden sogar darin sogar noch als „Hüter der Traditionen des Kapitalismus“ bezeichnet. Der Kapitalismus will also eigentlich, dass alle faul rumhängen und nicht arbeiten gehen? Vermutlich meint er damit auch die Kapitalisten, welche „ohne Arbeit“ den Mehrwert einstreichen. Das ähnelt wiederum sehr an antisemitische Denkmuster, nach denen die arbeitsscheuen Juden den ehrlich arbeitenden Massen ihren Lohn klauen.

Des Weiteren irritieren die autoritären Aussagen zur Kontrolle der Massen, welche jeden, der aus der Reihe tanzt, wenn nicht umbringen, so doch bitte zusammenschlagen sollen. Alles basierend auf angeblichen „unkomplizierten Grundregeln“, die der menschlichen Natur angeblich eingeschrieben sind.

Egal auf welchem Gebiet: Fetischisierung des Kapitalismus, Arbeitswahn, Produktivismus, Struktureller Antisemitismus, Konformismus. Lenin ist in keinem Aspekt ein Autor, der uns heute noch irgendetwas zu sagen hätte. Wie oben gezeigt ist der Begriff des „Ökoleninismus“ ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich selbst. Lenin wollte keineswegs die Produktion zurückschrauben, sondern er wollte Russland massiv industrialisieren. Wer sich heute also noch auf Lenin bezieht, kann ihn nicht für den Kampf gegen den Klimawandel ins Feld führen. Wer sich auf Lenin bezieht, steht für eine dystopische Zukunft, welche die ganze Welt in ein Arbeitslager verwandeln will und dem Konformismus huldigt.

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