Plakat in Portland (Oregon), das die allgegenwart des Klassenkampfes behauptet. Wikimedia

Gesellschaftskritik und Klassentheorie

Zur Notwendigkeit, unsere Vorstellung von sozialen Kämpfen zu reformulieren

Der Text basiert auf einem Input, das der Autor bei der Zweiten Marxistischen Arbeitswoche am 29. Mai in Frankfurt am Main gehalten hat.

Die Kategorie „Klasse“ hat in den Diskussionen um die Ausrichtung einer emanzipatorischen Gesellschaftskritik und die Stoßrichtung sozialer Kämpfe in den vergangenen Jahren erneut eine große Bedeutung erlangt. Das Revival der Klassenpolitik wird dabei als große Chance für eine präzisere Bestimmung der gesellschaftlichen Herrschaftsmechanismen und eine Radikalisierung sozialer Kämpfe verstanden. Für beides scheint der Begriff bei genauerer Betrachtung jedoch wenig geeignet. Es braucht ein anderes Paradigma, um die notwendigen Auseinandersetzungen im Kapitalozän zu führen.

Klasse und Kapitalismuskritik

Die Bedeutung, die der Klassenbegriff in der aktuellen Phase linker Theorie und Praxis einnimmt, hat nicht zuletzt eine für die Akteur:innen nicht zu unterschätzende sozialpsychologische Bedeutung.

Einerseits bringt er die Unterwerfung unter die gesellschaftlichen Bedingungen auf den (vermeintlichen) Punkt. Es wird klar, dass wir nicht einfach nur Menschen sind (wie es die liberale Ideologie behauptet), sondern „unterworfene Menschen“. Und zwar unterworfen durch das Prinzip „Klasse“, worunter dann aber alle etwas anderes verstehen. Damit will der Begriff das Leiden an der Gesellschaft verstehbar machen – erklärt aber gleichzeitig nur sehr wenig (weil ja alle was anderes unter dem Begriff verstehen).
Gleichzeitig enthält er aber auch ein handlungsleitendes Motiv. Denn weil die Unterwerfung uns nicht als Individuen trifft, sondern als Mitglieder einer Großgruppe (der „Klasse“) können wir daraus kollektive Handlungsfähigkeit ziehen.
Diese doppelte Funktion finden wir schon bei Marx. Der operiert einerseits mit einem analytischen Klassenbegriff (vor allem im Kapital, wo er die Klassen als Funktionskategorien der Warenproduktion versteht) und andererseits mit einem emanzipationstheoretischen (vor allem im Kommunistischen Manifest). Und auch heute macht sie m.E. die zentrale Attraktivität des Klassendiskurses aus. Er verspricht, einen Zusammenhang zwischen Herrschaft und Befreiung zu benennen und macht gleichzeitig klar, wie die Beherrschten durch ihre Verwandlung in ein Kollektivsubjekt die Verhältnisse umgestalten können.[1]

Das Problem ist nur, dass die beiden Begriffe weder gut zusammenpassen noch in der Lage sind, die Vielfalt von Herrschaft, Ausbeutung und Widerstand sinnvoll (oder gar kohärent) zu fassen. Diese Unvereinbarkeit führt zu einer Aufweichung des Klassenbegriffes, der auf ganz unterschiedliche Phänomene angewandt wird und damit die analytische Klarheit verliert, die ihn dereinst ausgezeichnet hat. Wenn beispielsweise Mietkämpfe als Klassenkämpfe gefasst werden sollen, dann wird eine Auseinandersetzung in der Zirkulationssphäre (Mieter:innen und Vermieter:innen treten sich hier gegenüber) mit einem Begriff belegt, den Marx noch für die Produktionssphäre reservieren wollte. Wenn am Ende aber alles „Klasse“ ist, dann kann der Begriff nichts Spezifisches erklären. Er taugt dann nicht mehr zur Analyse der Verfasstheit der gesellschaftlichen Verhältnisse. Wenn wir ihn aber andererseits auf die präzise polit-ökonomische Begriffsbestimmung reduzieren, die ihm Marx im Kapital zugedacht hat, dann taugt er kaum für die Beschreibung der zentralen Kämpfe, die heute in emanzipatorischer Absicht geführt werden.

Das Problem lässt sich unter Rückgriff auf den Klassenbegriff nicht lösen. Erst, wenn wir uns den zentralen Funktionsprinzipien der kapitalistischen Gesellschaft zuwenden, lässt sich das Verhältnis von Herrschaft und Unterwerfung in emanzipativer Absicht auflösen. Dieser Zugang impliziert einen zentralen Wechsel der Blickrichtung: Ausgangspunkt der Analyse sind nicht länger identitätspolitische Setzungen (Wer ist Teil der „Klasse“?), sondern inhaltliche Bestimmungen (Was wollen wir abschaffen?). Wir müssen uns daher der Frage zuwenden, was den Kapitalismus im Kern auszeichnet.


Was ist Kapitalismus?

Mit dem Kapitalismus entsteht eine Gesellschaftsformation, die sich in einem zentralen Punkt von allen vorherigen Gesellschaften abhebt. Die Menschen werden nämlich aus den traditionellen sozialen Beziehungen herausgerissen und in ein System hineingeworfen, dass sich durch eine merkwürdige Selbstbezüglichkeit auszeichnet.

Der Kapitalismus ist zentral durch den Mechanismus geprägt, aus Geld mehr Geld zu machen. Diesem Mechanismus verdankt er (der Kapitalismus) ja auch seinen Namen. „Das Kapital“ ist laut Marx das Prinzip, dass Arbeit, Geld und Natur einsaugt, um dann mehr Geld auszuspucken – und nebenbei die „Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter“.

Dieses Prinzip der rastlosen Selbstvermehrung ist selbstbezüglich – es hat keinen äußeren Zweck, keinen Endpunkt, auf den es hinsteuert. Und es ist von den Menschen, die konkrete Handlungs- und Herrschaftspositionen besetzen, weitestgehend unabhängig. Wer an den Kern der Unterwerfung und Entfremdung ranwill, unter der wir alle leiden, muss diesen selbstbezüglichen Prozess der Kapitalakkumulation ausschalten. Dafür braucht es andere Formen der gesellschaftlichen Reproduktion, die wir alle miteinander schaffen müssen. Und es braucht soziale Kämpfe, die wir gemeinsam führen müssen, um uns den gesellschaftlichen Reichtum anzueignen.

Die konkreten Bedingungen, unter denen soziale Kämpfe stattfinden, sind daher auch immer zentral durch die (Re-)Produktionsbedingen des Kapitals geprägt. Die Analyse dieser Bedingungen liefert daher laut Marx auch den Schlüssel zum Verständnis der je zeitgenössischen Kämpfe. Die Anrufung des Klassenbegriffes hingegen fungiert heute oftmals als Versuch, eine Abkürzung zu nehmen: es soll ohne substantielle Analyse direkt zu den Kämpfen gesprungen werden – die dann leidlich erfolglos geführt werden.

Polit-ökonomische Analyse statt Identitätspolitik

Nehmen wir als Beispiel eine aktuelle politische Debatte und schauen wir, wie sich die Perspektive durch die Berücksichtigung der polit-ökonomischen Zusammenhänge verschiebt.

Wenn die Preise für Lebensmittel, Energie und Miete steigen, dann drückt sich der Fokus auf die Klassenpolitik in Forderungen nach höheren Löhnen, staatlichen Subventionen für „die Arbeiter:innenklasse“ und einer stärkeren Reichensteuer aus.[2] Höhere Löhne bedeuten aber auch, dass die Wirtschaft insgesamt weiter wachsen muss, damit diese Löhne bezahlbar bleiben. Das mit dem Wirtschaftswachstum ist nun aber spätestens mit den ökologischen Krisen kein Weg mehr für eine Linke, die gerne einen lebenswerten Planeten erhalten möchte. Wenn wir aber rauswollen aus dem Wirtschaftswachstum, müssen wir auch unsere traditionellen sozialpolitischen Forderungen transzendieren.

Ein anderes Beispiel geben die Mieten bzw. die Mietkämpfe ab. Dass Mieten in den Ballungszentren krass steigen, liegt ja nicht einfach daran, dass die Vermieter:innen aus unerfindlichen Gründen plötzlich gieriger geworden sind und damit eine „Gierflation“ auslösen. Es liegt vielmehr an dem vielen ungenutzten Geldkapital, dass in Niedrigzinsphasen profitable Anlagemöglichkeiten sucht – und die dann im Immobiliensektor findet. Wenn wir die Preissteigerungen bei den Mieten verstehen und kritisieren wollen, müssen wir also über die Finanzialisierung des Kapitalismus, die Bedeutung der Finanzmärkte im 21. Jahrhundert und dergleichen Dinge reden. Da hilft auch der Hinweis, dass diese Prozesse von realen, handelnden Menschen exekutiert werden müssen, nicht viel weiter.

Wir müssen also über die polit-ökonomische Situation reden, in der sich der Kapitalismus aktuell befindet. Nur wenn wir die verstehen, können wir auch die Verschiebungen der sozialen Akteur:innen und die aktuellen Verarmungsprozesse verstehen.

Diese Perspektive impliziert, dass die zentralen Beziehungen, die das Leben im Kapitalismus prägen, nicht die Klassenbeziehungen sind. Mit dem Kapitalismus hat sich die Arbeit als zentrale Vermittlungsinstanz zwischen den Menschen und dem gesellschaftlichen Reichtum durchgesetzt. Wir alle sind davon abhängig, dass die Maschine der Kapitalverwertung weiterläuft, weil wir mit unseren Leben und unseren Reproduktionsmöglichkeiten an sie gebunden sind. Das macht uns erpressbar. Der Kollege, der im Automobilwerk Autos zusammenschraubt kann noch so sehr von der Dringlichkeit der ökologischen Krisen überzeugt sein – sein individuelles Reproduktionsbedürfnis bindet ihn an die automobilisierte Gesellschaft. Er wird sich im Zweifel sogar für den Verbrenner statt für das Elektro-Auto aussprechen – einfach weil die Produktion der Verbrenner arbeitsintensiver ist und ihm das zumindest auf kurze Sicht seine individuelle Finanzierung sichert.

Das wir uns in einer ökonomischen Phase befinden, in der die lebendige Arbeit im Produktionsprozess an Bedeutung verliert und gleichzeitig Finanzmarktwaren und Rentenökonomien an Bedeutung für die Kapitalakkumulation gewinnen, macht die Sache für den Kollegen in der Automobilfabrik übrigens nicht einfacher. Denn die Ware, die er verkaufen will (also die Ware Arbeitskraft) verliert objektiv an Bedeutung im Prozess der Kapitalakkumulation. Und das wirkt sich dann schlecht aus auf die Verkaufsbedingungen dieser Ware.

Um es noch mal hervorzuheben: das alles ist kein Naturgesetz, sondern eine Folge davon, dass wir alle unser Leben darüber aufrechterhalten müssen, dass wir Waren kaufen und verkaufen.  Darum hat der Marx den Kapitalismus ja auch ganz zentral als warenproduzierende Gesellschaft gekennzeichnet. Und aus der Mühle müssen wir raus, wenn wir die Zwänge loswerden wollen, die unser Leben zur Hölle machen.

Klassenkampf in der Klimakrise

Diese Überlegungen sind nicht neu, sie gewinnen vor dem Hintergrund der ökologischen Krisen noch mal an Bedeutung. Diese verändert die politische Situation, in der wir aktuell handeln, noch einmal grundlegend. Sie macht es nicht länger möglich, die Muster aufrechtzuerhalten, mit denen sich die Linke seit dem Fordismus über Wasser gehalten hat. Der Fokus auf höhere Löhne ist untrennbar mit dem Fokus auf Wirtschaftswachstum verbunden. Wir müssen aber nicht tiefer rein in den Kaninchenbau, sondern aus ihm raus. Wir brauchen nicht mehr Klassenpolitik als Kampf um eine Stärkung der Rolle der Arbeitenden im Kapitalismus, sondern im Gegenteil eine Demobilisierung der Klasse. Wir müssen die Kämpfe so führen, dass sie uns aus dem falschen Ganzen herausbringen können – und uns nicht immer tiefer in seine Mechanismen verstricken.

Insofern können soziale Kämpfe im Feld der Arbeit einen ganz unterschiedlichen Charakter annehmen, je nachdem unter welcher Prämisse sie geführt werden. So hat beispielsweise der Kampf um Arbeitszeitverkürzung einen völlig anderen Charakter als der Kampf um Lohnerhöhungen zum Erhalt der Konsumtionsfähigkeit der Arbeiter:innen-Klasse. Um es in den Worten von Leo Löwenthal zu sagen: „Das Proletariat soll aufhören!“

Wenn wir den Klassenkampf radikaler denken, wird es übrigens auch nicht viel besser: was wäre gewonnen, wenn die Betriebe den Arbeiter:innen gehören? Weite Teile der Produktion müssten aus Gründen der Gemeingefährlichkeit umgehend stillgelegt werden. Es geht hier am Ende um die Qualität des gesellschaftlichen Naturverhältnisses, also um die Frage, wie wir uns zur Welt um uns herum verhalten wollen. Das ist immer eng verbunden mit der Frage der Beziehungsweisen, also der Art und Weise, wie wir die Beziehungen zu unseren Mitmenschen herstellen.

Zurzeit begreifen wir die Natur als das Objekt außerhalb von uns, das es zu beherrschen gilt. Und wir stellen unsere sozialen Beziehungen über Waren, Geld und Arbeit her. Auf die Frage, wie das anders laufen soll, hat die gesellschaftliche Linke derzeit nur wenige befriedigende Antworten. Wir diskutieren stattdessen lieber über Klassentheorie. Womit dann freilich auch das Podium in Frankfurt, auf das dieser Text zurückgeht, nicht nur Teil der Lösung, sondern auch Teil des Problems ist.

Historische Transformation der Arbeiter:innenbewegung


Es gab ja tatsächlich mal eine Zeit, in der die Arbeiter:innenbewegung soziale Kämpfe recht erfolgreich geführt hat. Da können wir uns dann ganz materialistisch fragen: Was war die objektive Grundlage für die Bildung der Arbeiter:innen-Bewegung und für deren Konstitution als kollektives Handlungssubjekt?

Sie hatte ihre Grundlage in den polit-ökonomischen Verhältnissen des 19. Jahrhunderts. In der noch sehr jungen warenproduzierenden Gesellschaft hatten die Arbeiter:innen nur eine Ware anzubieten: ihre Arbeitskraft. Und doch waren sie weit davon entfernt, als gleichberechtigte Warensubjekte anerkannt zu sein. Die für uns heute selbstverständlichen politischen Rechte hatten sie nicht, auch soziale Rechte gab es kaum und damit auch keinen Schutz der von Arbeiter:innen feilgebotenen Ware.

Gleichzeitig waren sie jedoch für den kapitalistischen Produktionsprozess unverzichtbar. Die notwendigen Skills, die zur Produktion der Waren notwendig gewesen sind, waren in ihren Körpern und in ihren Köpfen vergegenständlicht. Damit hatten sie freilich auch ein Pfund in die gesellschaftliche Auseinandersetzung zu werfen. Das war die objektive, die materielle Grundlage für die Konstitution der Arbeiter:innen-Klasse.

Die durchaus erfolgreich geführten Kämpfe der Arbeiter:innen-Bewegung waren Kämpfe um die Anerkennung der Ware Arbeitskraft und damit um die Integration der Arbeiter:innen in die Zwangsgesetze einer Gesellschaft, die sich um Arbeit, Geld und Kapital dreht. In einer Zeit, in der die Ware Arbeitskraft die zentrale Bezugsware im kapitalistischen Kosmos war, ließen sich die Kämpfe auch gut als Klassenkampf führen.

Selbstverständlich waren diese Kämpfe oftmals emanzipatorisch aufgeladen gewesen. Das war auch möglich, weil sie ganz allgemein bessere Lebensverhältnisse für die Beteiligten herausgekämpft haben. Und andererseits, weil die objektive historische Mission der Arbeiter:innen-Klasse (d.h. die Integration der Arbeiter:innen zu vollwertigen bürgerlichen Subjekten) als ein Kampf gegen die Zwänge der kapitalistischen Moderne missverstanden wurde. Diese Perspektive drückt sich dann z.B. in der Annahme aus, in Wirklichkeit sei es gar nicht um eine Integration in die Verhältnisse, sondern um eine Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln gegangen. Solche sind nichts ungewöhnliches – aber letztlich trotzdem eine idealistische Setzung, die mit den materiellen Verhältnissen recht wenig zu tun hatte.
Je mehr dann die Integration der Arbeiter:innen gelang, desto mehr verschwand allerdings auch die emanzipatorische Aufladung der Kämpfe. Es kam zu einer Verallgemeinerung der warenförmigen Existenzweise, die nun vollständig von den Arbeiter:innen Besitz ergreift. Sie werden zu anerkannten Verkäufer:innen der Ware Arbeitskraft und zu anerkannten politischen Subjekten.

Damit treten nun freilich die gegensätzlichen Interessen der verschiedenen Gruppen Arbeitskraft-Verkäufer:innen in den Vordergrund. Die Gemeinsamkeit, die einst die Klasse konstituiert hat, wird zunehmend ausgehöhlt. Stattdessen treten zunehmend die Differenzen der Menschen in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen.

Polit-ökonomisch drückte sich das darin aus, dass der kapitalistische Produktionsprozess durch die verallgemeinerte Konkurrenz eine zunehmende Verwissenschaftlichung der Produktion hervorgebracht hat. Durch diese wurde nun einerseits riesige Steigerung der Produktionsmengen möglich (die den Arbeiter:innen in den Metropolen schier ungeahnte Konsummöglichkeiten beschert haben), andererseits wurden sie aber auch zunehmend zum Anhängsel einer Produktion, die sich ihnen gegenüber zunehmend verselbständigt.

Auf diese Weise kommt es einerseits zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung der betrieblichen Produktion, zu einer Herausbildung von Offizieren und Unteroffizieren des Kapitals, wie Marx das genannt hat. Spätestens mit der dritten Industriellen Revolution in den 1970er-Jahren führte dieser Prozess aber zusätzlich zu einer zunehmenden Deklassierung weiter proletarischer Lebenszusammenhänge.

In diesen Transformationen haben die Diskussionen um Neue Mittelklassen, die professional managerial class oder neue sog. „Wettbewerbsklassen“ ihren Platz. Sie sind Ausdruck der zerfallenden materiellen Voraussetzungen für eine emanzipative Klassenpolitik. Das Festhalten an Klassenfokus ist dann aber nur ein idealistischer Reflex – und eben keine materialistische Gesellschaftskritik.

Durch diese Verschiebungen verliert der Klassenkampf objektiv seine Zentralität, einfach weil ihm die materielle Grundlage entzogen wurde. Gleichzeitig rücken aber feministische und antirassistische Kämpfe (die es schon immer gegeben hat, die zuvor aber weniger sichtbar waren) mehr in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeitsökonomie. Der Versuch, feministische und antirassistische Kämpfe in erster Linie als Klassenkämpfe zu verstehen, kann vor diesem Hintergrund als (unbewusster) Versuch verstanden werden, ihre neue Bedeutung zu relativieren und die mit ihnen einhergehende Vervielfältigung der Kämpfe auszulöschen, indem sie als Klassenkämpfe neu geframed werden.

Was tun? Soziale Kämpfe jenseits der Klassenfrage


Wenn wir die Kämpfe aus der Perspektive der Klasse denken, denken wir sie letztlich Identitätspolitisch. Ich möchte stattdessen vorschlagen, sie inhaltlich zu denken. Als Negation dessen, was uns das Leben zu Hölle macht und was wir überwinden wollen.

Allerdings gibt es noch (mindestens) zwei wichtige Aspekte, die wir in der strategischen Ausrichtung der Kämpfe bedenken sollten.

Zunächst einmal durchdringt der kapitalistische Produktionsprozess alle gesellschaftlichen Bereiche. Eine emanzipatorische Praxis, die es mit dieser Totalität aufnehmen wollte, müsste den globalen Kapitalismus in einem Streich überwinden. Wenn nun aber die Arten, wie die Menschen zur Welt stehen und über die Welt denken selber von dieser kapitalistischen Totalität geprägt sind, dann werden sich dafür kaum relevante Mehrheiten herstellen lassen. Zumindest ist derzeit nicht absehbar, wo die herkommen sollten.

Gleichzeitig ist der Kapitalismus aber auch kein statisches System, das einfach auf einem gleichbleibenden Niveau Herrschaft organisiert. Es ist vielmehr ein hochgradig dynamisches System – und die Lebensbedingungen vieler Menschen werden durch die Krisendynamik des Kapitals (in den Sozialwissenschaften als „multiple Krisen“ bezeichnet) stetig schlechter. Mit der Klimakrise und der Krise der Biodiversität stehen zudem auch die naturwissenschaftlichen Grundlagen für die Errichtung einer lebenswerten Gesellschaft auf dem Spiel. Es ist also gleichsam Eile geboten, so dass es wenig aussichtsreich scheint, einfach abzuwarten bis die notwendigen globalen Mehrheiten für eine globale Weltrevolution vorliegen.

In der Folge bedeutet das m.E., dass wir bereits jetzt Wege finden müssen, um die Herrschaft der Warenform zumindest zu relativieren, um Teilbereiche der gesellschaftlichen Reproduktion aus dem Herrschaftsbereich der Ware herauszulösen.

Ansatzpunkte dafür ergeben sich, wenn wir die emanzipatorischen Kämpfe unter der Perspektive betrachten, dass unsere Reproduktion über den Kauf von Waren organisiert ist.


Viel Aufmerksamkeit haben zu Recht die Kämpfe um eine Vergesellschaftung von Wohnraum erlangt (z.B. DW enteignen oder Mietenwahnsinn Hessen). Hier geht es zentral darum, dass der Wohnraum seinen Warencharakter verlieren soll. Und tatsächlich verdanken sich ja die Explosionen der Mietpreise im Wesentlichen dem Warencharakter der Wohnungen: Wenn in Zeiten niedriger Zinsen Kapital investiert werden will, dann bietet sich Wohnraum als Spekulationsobjekt an. Das spiegelt sich dann in steigenden Mietkosten. Oft wird versucht, diese Kämpfe als „Klassenkämpfe“ zu framen, wobei damit meist verbunden ist, dass der Klassenbegriff an Schärfe verliert und letztlich identisch wird mit allgemein-soziologischen Begriffen wie „arm“ und „reich“. Er erweist sich als Umweg für etwas, was wir auch einfacher sagen können: Unser Leben wird erschwert, weil wir Wohnraum als Ware erwerben müssen. Aber Wohnen sollte keine Ware sein!

Nehmen wir einen anderen Bereich von sozialen Kämpfen. Die letzten Kampfzyklen in der Klimagerechtigkeitsbewegung haben die Frage aufgeworfen, zu welchen Bedingungen eigentlich Energie hergestellt wird. Auch die wird als Ware produziert und verkauft. Daraus sind Kampagnen wie „RWE enteignen“ entstanden.
In einer Gesellschaft wie der in Deutschland, die eine Mietquote von knapp 60% hat, ergeben sich daraus interessante Vernetzungsmöglichkeiten von sozialen Kämpfen. Denn im Moment hat ja z.B. niemand Interesse daran, Häuser vernünftig zu dämmen. Vermieter:innen haben kein Interesse, weil sie die Energiekosten nicht zahlen müssen, Mieter:innen haben gar kein Zugriff weil sie nicht Eigentümer:innen sind und die Stromkonzerne wollen Energie verkaufen, die haben auch kein Interesse an einer Senkung des Absatzes. Wären nun aber die Wohnungen in Mieter:innen-Hand und auch die Energieproduktion vergesellschaftet, dann würden sich enorme Synergie-Effekte ergeben. Nun könnten die Menschen sich tatsächlich überlegen, wie sie ihre Energieversorgung stofflich sinnvoll organisieren wollen. Bislang ist das gar nicht möglich, weil überall diese Ware-Geld-Beziehungen zwischengeschaltet sind.
Aus der Perspektive einer warenkritischen Bewegung ergibt sich so eine Vielzahl von Interventions- und Kooperationsmöglichkeiten sozialer Bewegungen. Dabei sind diese einzelnen Kämpfe selbstverständlich noch keine Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse. Aber sie schaffen Raum zum Atmen in einer Welt, in der das Atmen nicht zuletzt dank der sich stetig wandelnden klimatischen Bedingungen immer schwerer fällt.

Das impliziert übrigens noch einen weiteren Aspekt: die neuen Verbindungsmöglichkeiten zwischen Kämpfen ergeben sich gerade nicht aus einer Zurücknahme der eigenen Forderungen, in einem für alle unerfreulichen Scheinkompromiss. Sondern aus ihrer Ausweitung und Radikalisierung. Gerade weil wir die Grundkategorien der kapitalistischen Gesellschaftsformation in den zum Ausgangspunkt unserer Kämpfe machen, gerade durch die Radikalisierung der Forderungen, ergeben sich immer neue Bündnismöglichkeiten zwischen Kämpfen.


[1] In der Diskussion bei der Marxistischen Arbeitswoche argumentierte ein Diskutant, Marx habe die gesellschaftlichen Bedingungen auf einen einfachen Satz mit Subjekt, Objekt und Prädikat gebracht. Nun sei klar, wer etwas zu tun habe, was zu tun sei und wie das zu geschehen habe. Die Welt erscheint im Klassendiskurs als wohlgeordnet und leicht überschaubar. Angesichts der Hoffnungslosigkeit, in der sich emanzipatorische Bewegungen befinden, vermag das sicherlich Trost zu spenden. Weiterbringen tut es uns freilich nicht.

[2] Vgl. etwa die unsägliche Genug-Kampagne: https://www.wirsagengenug.de/

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