Alles wird teurer. Viele Menschen können sich die Preise nicht mehr leisten. Aber liegt es am gierigen Verhalten der Kapitalisten - oder an der Akkkumulationstendenz des Kapitals? Foto: Pixabay

Gierflation – oder Kapitalakkumulation?

In Politik und Feuilleton wird gerade viel über die Ursachen der aktuellen Teuerungswelle diskutiert. Ein Gedanke taucht immer wieder auf: wurden möglicherweise die Preise einfach nur erhöht, weil Unternehmen die Gunst der Stunde genutzt und so Preiserhöhungen durchgesetzt haben? Diesen Gedanken äußerten zunächst Isabella M. Weber und Evan Wasner in ihrem Working-Paper “Sellers’ Inflation, Profits and Conflict: Why can Large Firms Hike Prices in an Emergency?”. In jüngster Zeit wird das Thema vor allem im Umfeld des Jacobin-Magazin aufgegriffen. Wie sind diese Überlegungen einzuschätzen?

Seller’s Inflation bei Weber & Wasner

In ihrem Working-Paper führen die Autor:innen die Preisentwicklung auf die Preisgestaltung der Unternehmen zurück. Das von ihnen dargestellt unternehmerische Kalkül gibt es selbstverständlich, es handelt sich dabei jedoch um einen nachgeordneten Aspekt. Zunächst einmal wäre zu Fragen, welche weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen diese Unternehmensstrategien überhaupt plausibel erscheinen lassen. Einen Versuch auf die Antwort dieser Frage hat Ernst Lohoff in diesem Vortrag gegeben, den wir nach wie vor für sehr hörenswert halten:

In Hinblick auf die im Video geschilderten Verschiebungen der Kapitalakkumulation bleibt das Paper von Weber/Wasner ziemlich blass. Sie reden von einer Tendenz zur Monopolbildung, die ja in der kapitalismuskritischen Theoriebildung auch nicht zum ersten Mal thematisiert wird. Dahinter verbirgt sich die alte Diskussion, ob das wirtschaftliche Geschehen aus der den oberflächlichen Konkurrenzerscheinungen erklärt werden kann – oder ob diese Konkurrenz nur eine Durchsetzungsform tiefergehender, den Akteur:innen vorausgesetzter Zusammenhänge ist (wie das die sog. “Wertkritik” im Anschluss an Marx behauptet). 

Aus dieser Perspektive entpuppt sich der Streit um die Ursache der Preissteigerungen um eine immanente Auseinandersetzung zwischen zwei Flügeln der liberalen Ökonomietheorie. Sie streiten darum, welchen Handlungsträger:innen die Schuld an der Inflationsmalaise gegeben werden kann. Sind nun die Lohnarbeiter:innen Schuld (weil sie zu viel Geld haben und daher zu viel konsumieren) oder die Kapitalist:innen (weil sie willkürlich die Preise erhöhen)? Fragen nach der Funktionsweise des Systems des kapitalistischen Reichtums werden dabei freilich umstandslos übersprungen.

Dabei mag der Ansatz von Weber/Wasner der deutlich sympathischere sein (weil er die systemimmanenten Lebenswirklichkeiten der Bevölkerung in den Blick nimmt und nicht umstandslos das Prinzip der Profitmaximierung verabsolutiert). Aber wenn Teile der Inflation zu “Mitnahmeeffekten” erklärt werden, dann bleibt die Frage offen, auf welche Zusammenhänge die vorgängige Erhöhung der Rohstoffpreise zurückgeht. Auch die zweite von dem Autor:innen-Duo angeführte Unternehmensstrategie lässt Fragen nach ihren Ursachen zurück. 

So betonen sie, dass in den letzten Jahren und Jahrzehnten der langfristig-strategische Ausbau der Marktposition zu lasten einer (kurzfristigeren) Erhaltung der Gewinnmargen gewichen sei. Das ist sicherlich richtig – aber in welchen Entwicklungen liegt dieser Strategiewandel (der sich ja auf weite Teile der Unternehmen erstreckt) begründet. Wenn er so umfassend ist, wie von den Autor:innen angedeutet, dann muss es ja Ursachen geben, die sich nicht einfach auf willkürliche, personale Entscheidungen in einzelnen Unternehmen zurückführen lassen. Diese Dynamiken aufzudecken würde möglicherweise helfen, die aktuelle Situation besser zu verstehen.

Trotz allen Einwänden deutet das Paper von Weber & Wasner freilich trotzdem auf überdurchschnittliche Preiserhöhungen durch die Unternehmen hin. Hier wäre noch einmal zu berücksichtigen, in welchen ökonomischen Segmenten die in der Studie untersuchten Betriebe ansässig sind – und wie sich deren Preispolitik mit den spezifischen Akkumulationsbedingungen in diesem Bereich verbindet. Die meisten Unternehmen, die in der Studie untersucht werden, sind solche, die selbst nicht mehr Teil der “Urproduktion” sind, sondern direkt am Beginn der “Weiterverarbeitung” (volkswirtschaftlich der zweite Sektor) stehen: Stahlproduktion, Schlachtbetriebe, Lebensmittel, Getränkeproduktion, künstliche Vorprodukte. Der einzige Betrieb, der ein wenig rausfällt, produziert Hygieneartikel (Toilettenpapier et al).

Dabei ist in Bezug auf die Nahrungsmittelproduktion ohnehin bekannt, dass die Verschiebungen in den letzten Jahrzehnten mit Nahrungsmittelspekulation am ehesten den großen Produzent:innen nutzen. Weder die landwirtschaftliche Grundproduktion noch die Märkte vor Ort profitieren davon. Das deutet bereits auf einen systemischen Zusammenhang hin, der bislang in der Diskussion aber nicht auftaucht. Dieser wäre aber herauszuarbeiten, um wirksamen Strategien für soziale Bewegungen entwickeln zu können.

In diesem Sinne würden die Entscheider:innen in den Unternehmen konsequent im Sinne der Kritik der politischen Ökonomie als Charaktermasken ihrer Waren verstanden. Dabei drängt sich die Ordnung nach Warentypen empirisch auf. Sehen wir von der relativ kurzfristigen Lieferkettenproblematik ab, dann sind die Inflationstreiber allesamt Güter, bei denen es um primäre Naturaneignung geht: Energieträger und Nahrungsmittel.

Diese Art von Waren haben im Rahmen der Kritik der politischen Ökonomie aber eine Sonderstellung inne. Sie werden im ersten Band des Kapital gar nicht behandelt, sondern tauchen erst im Band drei auf, wo Marx das Problem der Grundrente einführt. Die Gewinne, die in diesem Sektor erzielt werden, haben insofern einen anderen Charakter als die im sekundären Sektor, dasie immer eine Rentenkomponente haben. Genau die schießt gerade in die Höhe, was sich mustergültig an der Merit-Order Problematik auf dem Strommarkt ablesen lässt. 

Diese analytische Unterscheidung ist für das Verständnis der gegenwärtigen Konstellation essentiell. Darüber hinaus ermöglicht sie einen sehr plausiblen Brückenschlag von Inflationsproblematik zur Frage der Naturschranke. Als Wissenschaft, die stets Äpfel und Birnen zusammenzählt nicht zwischen Wert und Preis unterscheidet und kategorial stets Kraut und Rüben serviert, hat die VWL zu diesem Kernproblem zeitgenössischer Ökonomiekritik hingegen gar keinen Zugang-.

Gierflation im Jacobin-Mag

Im Hyperpolitik-Podcast des Jacobin-Mag haben Ines Schwendtner und Nils Schwenderjann darauf verwiesen, dass die Erzeuger:innenpreise seit letztem Oktober sinken würden. Das ist allerdings so nicht korrekt. Nur wenn wir uns die Veränderungen der Erzeuger:innenpreise zum Vormonat anschauen, können wir ein Sinken der Steigerungsrate der Erzeuger:innenpreise statistisch erkennen.Da die Inflationsrate aber in Bezug auf den Vorjahresmonat ausgegeben wird, muss ein korrekter Vergleich sich auch auf diese Zahlen beziehen.

Dabei sehen wir allerdings, das ich den vergangenen Monaten die die Erzeuger:innenpreise i.d.R. im statistischen Durchschnitt deutlich stärker gestiegen sind als die Verbraucher:innenpreise:

 Verbraucher:innenpreisindexErzeuger:innenpreisindex
März 20237,47,5
Februar 20238,715,8
Januar 20238,717,6
Dezember 20228,621,6
November 202210,028,3
Oktober 202210,434,5
September 202210,045,8
August 20227,945,8
Juli 20227,537,2
Quellen:
Erzeuger:innenpreise:
https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Konjunkturindikatoren/Preise/kpre550.html#250132
VPI 2022:
https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/01/PD23_022_611.html
VPI 2023
https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/04/PD23_170_611.html

Für den Bereich des Produzierenden Gewerbes, auf den sich diese Daten beziehen, lässt sich eine Gierflation also nicht empirisch beschreiben. Für andere Bereiche lassen sich stärkere Preissteigerungen, die über die gestiegenen Vorkosten der Produktion hinausgehen, durchaus nachzeichnen. So bemerkt das Ifo-Instut für die Urproduktion, hier seien die Preise um ein Vielfaches im Vergleich zu den Preissteigerungen in anderen Branchen bzw. im gesellschaftlichen Durchschnitt gesteigen. Hierfür machen die Autor:innen der Studie den Welthandel mit Agrarprodukten sowie allgemeine Knappheitsentwicklungen verantwortlich.

Dabei entgeht auch den Autor:innen dieser Studie aus der neoklasischen Schule freilich der besondere Charakter der Urproduktion, auf den wir oben bereits kurz eingegangen sind. Auch hier wird also deutlich, dass es für die Untersuchung der aktuellen ökonomischen Entwicklungen einer ökonomiekritischen Theorie bedarf und uns einfache Verweise auf die Existenzs einer “Klassengesellschaft”, aus der dann 1:1 alles abgeleitet werden soll, nicht weiterhelfen.

Ein Kommentar

  1. Der Begriff „Gierflation“ und seine Implikationen sind natürlich irreführend. Die hier vorgetragene Kritik an dem Weber’schen Ansatz wird dadurch jedoch nicht richtiger. Hier ein paar Beispiele: in typisch klischee-marxistischer Manier wird hier ein alternativer Erklärungsansatz sogleich zu einem Flügel der „liberalen Ökonomietheorie“ erklärt, was ihm den Anschein von Oberflächlichkeit und Unterlegenheit verleihen soll. Nur ist diese Einordnung post-keynesianischer Theorie, die maßgeblich aus der Marx-Rezeption hervorgegangen ist, unpassend. Aber wenden wir uns lieber den Argumenten zu. Dass die Preisgestaltung von Unternehmen direkte Ursache von Inflation ist, sollte unkontrovers sein. Ohne diese ist ein allgemeiner Preisanstieg logisch nicht möglich. Jede Analyse, die die Preissetzung der Unternehmen ignoriert muss notwendigerweise oberflächlich bleiben. Der Autor scheint aber – wohl irregeleitet durch den irreführenden Namen – Weber selbst eine solche Oberflächlichkeit zuschreiben zu wollen. Ob ihm bewusst ist, dass gerade ihr Ansatz dem methodologischen Individualismus entgegenläuft und die „weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen“ als maßgeblich für das Preissetzungsverhalten sieht, vermag ich nicht zu beurteilen. Auch bleibt unklar, ob der Autor doch tatsächlich die Möglichkeit von Mitnahmeeffekten bestreitet. Sein Verweis auf den vorherigen Anstieg der Nahrungspreise stellt jedenfalls nicht den logischen Widerspruch dar, den er damit suggerieren will. Entweder ist alles Seller’s Inflation oder nichts oder wie soll man sich das vorstellen? Der „empirische Test“ ist ebenso uneindeutig und es wird nicht erläutert, warum seine Gegenüberstellung von monatlichen und Year-over-Year-Raten in irgendeiner Form eine Widerlegung der These der Seller’s Inflation darstellt. Zusammenfassend: der durchaus schlecht gewählte Name der „Gierflation“ veranlasst den Autor zur bewussten oder unbewussten Misscharakterisierung des Ansatz und durch das Fehlen von einschlägigen Begriffen wie „Charaktermaske“ oder „Wert“ ist schnell klar, dass dieser gar nichts anderes sein kann als ahnungslose bürgerliche VWL. Eine weniger identitäre und affektgetriebene Auseinandersetzung mit anderen nicht-wertkritischen Theorien würde der Wertkritik jedoch mMn zuträglich sein.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert