Sozialstruktur und Lebenswirklichkeit

Der Begriff der Klasse ist derzeit in aller Munde. Doch zugleich bleibt er oft seltsam lehr und auch die linke Praxis, die sich um den Begriff herumgruppiert, bleibt nicht selten sehr abstrakt. Das ist kein Zufall. Der Klassenbegriff hat seine besten Zeiten hinter sich. Er verdankt sich der Frühgeschichte des Kapitalismus und geht auf Analogiebildungen zwischen Natur und Gesellschaft zurück. In der absolutistischen Gesellschaft schien das noch plausibel. Heute können hingegen können wir nicht mehr viel mit dem Begriff anfangen.

Anmerkungen zur Geschichte des Klassenbegriffs

Der Begriff der Klasse stammt aus dem Begriffsinstrumentarium der modernen Biologie und wurde zuerst von dem schwedischen Arzt und Naturwissenschaftler Carl von Linné im Rahmen seiner „Systema Naturae“ in die naturphilosophische Debatte seiner Zeit eingeführt. In dieser Systematik der Natur versuchte Linné, Pflanzen, Tiere und Mineralien durch aufeinander aufbauende Rangstufen zu systematisieren. Die „Klasse“ liegt dabei zwischen der Rangstufe des Stammes und der Rangstufe der Ordnung“.

Die Klasse der Fische bei Linné

Linné orientierte sich bei der Einteilung der biologischen „Klassen“ an der ihm wohlvertrauten höfischen Ständegesellschaft (er war Leibarzt des schwedischen Königs) und wollte eine ebenso sauber organisierte Logik auch auf die Welt der Natur übertragen.

Der Begriff, der in anderer Art und Weise schon in der vormodernen Philosophie verwendet wurde,

konnte dann auch von sozialphilosophischen Darstellungen aufgegriffen werden und fand so einen Weg in die modernen Sozialwissenschaften. Wir finden ihn beispielsweise in den Werken von Adam Smith und David Ricardo an prominenter Stelle. Nachdem die Vorstellungen der höfischen Gesellschaft also in die Naturphilosophie übernommen wurden, sind sie von dort wieder zurück in die Gesellschaftswissenschaften geschwappt. Linné orientierte sich bei der Einteilung der biologischen „Klassen“ an der ihm wohlvertrauten höfischen Ständegesellschaft (er war Leibarzt des schwedischen Königs) und wollte eine ebenso sauber organisierte Logik auch auf die Welt der Natur übertragen.

Der Begriff, der in anderer Art und Weise schon in der vormodernen Philosophie verwendet wurde, konnte dann auch von sozialphilosophischen Darstellungen aufgegriffen werden und fand so einen Weg in die modernen Sozialwissenschaften. Wir finden ihn beispielsweise in den Werken von Adam Smith und David Ricardo an prominenter Stelle. Nachdem die Vorstellungen der höfischen Gesellschaft also in die Naturphilosophie übernommen wurden, sind sie von dort wieder zurück in die Gesellschaftswissenschaften geschwappt.

Die Klasse der Vögel bei Linné

Auch Marx hat den Begriff aufgegriffen und in einigen seiner Schriften auch in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt – während er ihm in anderen Schriften eher eine nachgeordente Stellung zuweist. Im Marxismus ist diese Fokussierung auf die Klasse aufgegriffen und weiter theoretisch ausgeführt worden.

In sozialphilosophischen Betrachtungen der Neuzeit war die Sortierung der Menschen in „Klassen“ oder „Stände“ (die Begriffe wurden in der zeitgenössischen Debatte im Wesentlichen Synonym gebraucht) gängig.

Diese Einteilung bestimmte das gesellschaftliche Leben und auch die Erfahrungswelten der Menschen – weshalb ihr Blick stark durch diese Kategorien geprägt war. Die Menschen gelten dabei zumeist als mit ihrer Klassenlage identisch. Begrifflich wurde dieser Differenz im Marxismus durch die Unterscheidung des Standesbegriff vom modernen Klassenbegriff Rechnung getragen. Lediglich in dem allgemeinen Klassenbegriff, den Marx zu Beginn des Manifests verwendet, sollte die Ständegesellschaft “mitgemeint” sein. Der spezifische, auf den Kapitalismus bezogene Klassenbegriff sollte hingegen auch die Möglichkeit eines vergleichsweise leichteren Wechsels der Klassenzugehörigkeit und die Abhängigkeit der Klassenlage von den ökonomischen Verhältnissen reflektieren. Klasse galt nicht länger Geburtsrecht, sondern wird vor dem Hintergrund der bürgerlichen Freiheit und Gleichheit relativiert.

Wenn wir uns die Klassenwahrnehmung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ansehen, dann ist diese jedoch von einem Weltverständnis geprägt, dass sich ohne die ständischen Selbstverständlichkeiten kaum verstehen lässt. Die Welt war nach wie vor ländlich geprägt. In Europa lebten etwa 90 – 97 % der Bevölkerung auf dem Land. Die Städte waren klein, aber dennoch vorhanden. Das Selbstbewusstsein der Städter:innen unterschied sich stark von dem der Menschen auf dem Land, und auch die Bedingungen des täglichen Lebens und des individuellen Tätigkeitsfeldes unterschieden sich deutlich. So lebten die Menschen in Stadt und Land streng voneinander getrennt und entwickelten auch je unterschiedliche Selbstverständnisse und Haltungen zur Welt.

Die Klasse der Steine bei Linné

Die Menschen auf dem Lande, die tatsächlich die Böden und Äcker bebauten, waren oftmals in neuzeitliche oder spätfeudale, aber stets direkte Abhängigkeitsverhältnisse eingebunden. Ein Großteil der Bevölkerung der modernen Welt bestand somit aus Leibeigenen oder Sklav:innen. Sicherlich gab es auch freie Bauern, aber auch sie waren räumlich, sozial und politisch streng von den Städter:innen getrennt.

Das Leben der Menschen war durch eine direkte Unterwerfung unter einen persönlichen Machthaber bzw. Eigentümer geprägt. Diese waren zumeist adlige Landbesitzer und fürstliche Magnaten (zumeist ja tatsächlich Männer).

Auch zwischen diesen Gruppen gab es feste, zumeist persönlich bestimmte Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnisse. Auf diese Weise wurden die individuellen Menschen und ihre Klassenzugehörigkeit als im Wesentlichen identisch wahrgenommen:

„Das heißt, der Bauer oder Landarbeiter betrachtete jeden Gutsbesitzer als einen ,Herrn‘ und daher als Mitglied der herrschenden Klasse, und umgekehrt konnte niemand dem Adelsstand angehören, der kein Gut besaß. Mit der Zugehörigkeit zu diesem Stand aber waren soziale und politische Privilegien verbunden, und nur wer dazugehörte, konnte offiziell in die höchsten Staatsstellen aufsteigen.“

Eric Hobsbawn: Eurpäische Revolutionen, S. 31f.

Es verbanden sich in der sozialräumlichen Ordnung dieser Zeit die Reste feudaler Privilegien mit frühen Formen der modernen Ökonomie. Je weiter sich die moderne Marktökonomie in die Gesellschaft hineinfraß, desto mehr wurden diese alten Verhältnisse ausgehöhlt. Das galt sowohl für die Freisetzung der Landarbeiter:innen als auch für die zunehmende prekäre ökonomische Situation des Landadels – zumindest wenn wir ihn mit dem Lebensstil in Verbindung setzen, die sein Stand mit sich brachte. Bisweilen wurde auch versucht, die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stand als Instrument zur Niederhaltung ökonomischer Rivalen zu nutzen. Hier verbinden sich moderne und vormoderne Prinzipien und Anschauungen.

So wurde beispielsweise die  Eintreibung feudaler Abgaben mehr und mehr durch eine moderne Rentenökonomie ersetzt:

„Der typische Bauer hatte schon im Spätmittelalter viele Charakteristiken des Hörigen verloren, obschon viele Überreste der Hörigkeit weiterbestanden. Das typische Gut  wiederum hatte seit langem aufgehört, eine wirtschaftliche Betriebseinheit zu sein, denn es diente vor allem der systematischen Eintreibung von Renten und anderen Geldeinkünften. Die Grundherrschaft verdrängte die Gutsherrschaft.“

Eric Hobsbawn: Europäische Revolutionen, S. 33

Die Verwendung des Klassenbegriffs in diesen Gesellschaften verdankt sich dieser engen Verbindung von feudalen Standesprivilegien und moderner Eigentümer:innenschaft. Bis heute geht mit ihm die Tendenz einher, Menschen mit ihrer politischen „Rolle“, ihrer „Charaktermaske“, wie Marx später sagen wird, zu identifizieren.

Diese Tendenz wird dann in aktuellen Diskussionen um Kapitalismuskritik nur allzu oft zu einem Problem. Plötzlich werden dann die ökonomischen Verhältnisse ganz auf die Vertreter:innen einzelnen Gruppen zurückgeführt und aus deren “Interessen” abgeleitet. Dann scheinen Preissteigerungen eine Folge gieriger Kapitalist:innen (“Gierflation”), die einfach vom Staat ordentlich an die Kandarre genommen werden müssen. Stattdessen wäre aber zu schauen, welche politökonomischen Transformationen sich hinter diesen Phänomenen verbergen. Wer immer nur auf die Klasse schielt, muss diese aber übersehen.

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