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Wachstum ohne Wert

In der marxistischen Tradition wird der Kapitalismus vor allem als Gesellschaftsform verstanden, in der durch den Einsatz von Arbeit und die Produktion von Waren aus Geld mehr Geld gemacht wird. Gewinne, die im sogenannten „Finanzüberbau“ erwirtschaftet werden, gelten dabei als abgeleitete Größen. Letztlich, so die Überzeugung der marxistischen Theorie, müssen diese Finanzgewinne auf zuvor geleistete Arbeit zurückgeführt werden. Die vermeintliche Eigenständigkeit des Finanzmarkts wird in dieser Perspektive als Illusion betrachtet: Es erscheint nur so, als ob der Finanzmarkt unabhängig agiere.

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Realökonomie jedoch in eine Richtung entwickelt, die mit dieser Annahme nur schwer in Einklang zu bringen ist.Dies wird beispielhaft am Verhältnis zwischen Aktienmärkten und der realen Warenproduktion deutlich. 

Aus der traditionellen Perspektive stellen Aktienkurse eine abgeleitete Größe dar. Sie reflektieren die Gewinne und Gewinnerwartungen der Realwirtschaft. Eine langfristige Entkopplung von der Realökonomie wird in dieser Perspektive auf den Kapitalismus ausgeschlossen. Kursgewinne müssen stets auf reale Arbeitsleistungen zurückgeführt werden können, die in Fabriken und Produktionsstätten erbracht werden.

Die Wirtschaftsleistung eines Landes wird üblicherweise im Bruttoinlandsprodukt (BIP) gemessen. Betrachtet man das BIP Deutschlands (siehe graue Linie in Diagramm 1), zeigt sich über die letzten Jahre und Jahrzehnte ein moderater Anstieg.

Gegenübergestellt wurden in der Grafik auch die Aktienkurse der im Deutschen Aktienindex (DAX) gelisteten Unternehmen. Hier zeigt sich deutlich, dass die Dynamik der Aktienmärkte weitaus ausgeprägter ist als die der Realwirtschaft. Dieses Auseinanderdriften von Finanzmärkten und realer Produktion stellt die traditionelle marxistische Interpretation vor Herausforderungen.

Während die Aktienkurse Anfang der 1990er Jahre noch auf einem ähnlichen Niveau wie das Bruttoinlandsprodukt lagen, haben sich die Preise der dort gelisteten Aktien seither vervielfacht. Im Vergleich dazu verläuft das Wachstum der Realökonomie vergleichsweise gleichmäßig und weniger dynamisch.

Diese Entwicklung ist nicht auf die deutsche Wirtschaft beschränkt. Auch global zeigt sich dieser Trend: Wie in Schaubild 2 zu sehen ist, wächst die Realökonomie weltweit zwar schneller als in Deutschland, bleibt jedoch auch hier deutlich hinter dem Zuwachs des globalen Aktienhandels zurück.

Für eine kritische Gesellschaftstheorie, die nicht in leeren Phrasen verharren, sondern aktuelle Entwicklungen verstehen und erklären will, ist es daher entscheidend, über die traditionellen Denkansätze des Marxismus hinauszugehen und diese Entwicklungen differenziert zu analysieren.

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