In der Linken wird seit einiger Zeit wieder vermehrt über Klasse diskutiert. Neben dem Revival der marxistischen Klassentheorie in der Neuen Klassenpolitik macht auch ein neues theoretisches Konzept von sich hören. Analog zu Sexismus und Rassismus wird nun auch Klassismus kritisiert. Der Begriff hat es mittlerweile auch in die bürgerlichen Medien geschafft und so präsentiert uns Nils Markwardt auf Zeit Online einen Überblick über die Schlagrichtung der neuen Theorie. Ich möchte im Folgenden zunächst seine Darstellung zusammenfassen und im Anschluss daran einige Gedanken zur Klassismus-Theorie formulieren. Ich tue dies bewusst nicht anhand eines akademischen Aufsatzes, sondern anhand einer feuilletonistischen Aufarbeitung der Massenmedien. Bestimmte Aspekte der Theoriebildung, so meine Annahme, werden hier besonders gut deutlich.
Markwardt beginnt die Darstellung mit einer Erzählung über den ehemaligen Fußballprofi Gerd Müller. Der habe als Bundesliga-Rekordtorschützenkönig zwar gut verdient, sei aber von seinen Kolleg*innen alles andere als königlich behandelt worden.
Selbst auf der Höhe seines Erfolgs in den Sechziger- und Siebzigerjahren ließen ihn Teamkollegen wie Franz Beckenbauer, Sohn eines Post-Obersekretärs und ausgebildeter Versicherungskaufmann, merken, dass sie sich Müller habituell überlegen fühlten. Und auch die Münchener High Society schmückte sich zwar bisweilen mit dem „Bomber der Nation“. Hinter halb vorgehaltener Hand machte sie aber stets klar, welchen Abstand sie zu dem Sportler empfand, der nach der achten Klasse von der Schule abgegangen war und dessen Eltern sich als Fahrer und Putzfrau gerade so über Wasser halten konnten.
Nils Markwardt: Du gehörst nicht dazu!
Gerd Müller, so die Diagnose, hat durch Begabung und fußballerischen Erfolg zwar den Aufstieg in der Klassengesellschaft geschafft, ist von den Angehörigen seiner neuen Klasse aber nie so richtig anerkannt worden. Mit einer Verschärfung und deutlicheren Sichtbarkeit der Trennung von Armut und Reichtum bekommt das Problem neue gesellschaftspolitische Dimensionen:
Relative Armut ist heute in bestimmten Schichten tiefer und vor allem sichtbarer. Zum anderen haben sich aber auch in den Medien gleichermaßen beständige wie aggressive Bilder zur Abwertung der Armen festgesetzt. Man denke beispielsweise nur an die unzähligen TV-Pseudodokus wie Mitten im Leben oder Frauentausch, die zuverlässig Stereotype vom wahlweise dicken, dummen, dreisten, faulen oder undisziplinierten Hartz-IV-Empfänger verstärken.
Nils Markwardt: Du gehörst nicht dazu!
Beide Phänomene gibt es tatsächlich. Einerseits klappt die soziale Schere auf. Und andererseits gibt es hartnäckige Witzeleien über das sog. „Unterschichtsfernsehen“ oder die Vornamen in sog. „bildungsfernen Schichten“. Dementsprechend hat auch die Politik das Thema für sich entdeckt.
Im Juni vergangenen Jahres verabschiedete Berlin ein Antidiskriminierungsgesetz, das nun auch vor einer Benachteiligung aufgrund des „sozialen Status“ schützen soll. Und Finanzminister Olaf Scholz twitterte im vergangenen Oktober, progressive Politik müsse neben der Bekämpfung von Sexismus und Rassismus „auch den Klassismus ansprechen, also den Mangel an Respekt gegenüber vielen, die hart arbeiten“.
Nils Markwardt: Du gehörst nicht dazu!
Gegen sehr unterschiedliche soziale Lagen hat die Bundesregierung ganz offensichtlich nichts einzuwenden. Dass es arm und reich gibt, wird nicht als Problem begriffen. Auch nicht die geringen Sätze für die Bezieher*innen von Sozialleistungen. Nur dass sie dann, einmal verarmt, im Anschluss auch noch „Benachteiligung“ erfahren sollen, das geht dann doch wirklich zu weit!
In diesem Sinne ist es kaum verwunderlich, dass sich auch Olaf Scholz als Fan des Konzepts „Klassismus“ outet. Olaf Scholz, der sich selbst mit seinen 16000 Euro Gehalt nicht als reich oder auch nur zur „oberen Mittelschicht“ zugehörig empfindet, gibt sich hier als echter Sozialdemokrat. Die größer werdenden sozialen Verwerfungen, die sich im Wesentlichen der Politik seiner Partei verdanken, interessieren ihn keine Bohne. Aber unflätig über die Leute reden, das ist wirklich nicht nett. Zumindest, so fügt Scholz hinzu, solange sie „hart arbeiten“. Das ist dem Sozialdemokraten wichtig. Damit verstärkt er allerdings, wie der Text zurecht bemerkt, am Ende das Stigma für diejenigen, die ihre Ware Arbeitskraft noch nicht erfolgreich verkaufen konnten.
Dabei sind die Probleme, die mit der Deklassierung und Proletarisierung breiter Bevölkerungsschichten einhergehen, ja nicht erfunden. Zu der Einkommensarmut kommt eine verallgemeinerte Verunsicherung, ständiger ökonomischer und sozialer Druck. Der Text zählt die Phänomene sehr treffend auf: „Keinen Raum für Fehler zu haben und in permanentem Stress sowie emotionaler Unsicherheit zu leben“ zählt ebenso zu den psychischen Folgen wie die Angst, die Miete, die neue Waschmaschine oder die Klassenfahrt der Kinder nicht bezahlen zu können. Diese Zumutungen führen, und darauf scheint der Vorwurf dann am Ende hinauszulaufen, auf Diskriminierung hinaus:
Schließlich sorgt der Klassismus – ähnlich wie Rassismus oder Sexismus – dafür, dass Menschen aufgrund von Vorurteilen und diskriminierenden Zuschreibungen bei Bewerbungsgesprächen, Wohnungsbesichtigungen oder im privaten Networking früher aussortiert werden. Oder dass sie überhaupt keine jener Chancen erhalten, die die liberale Leistungsgesellschaft eigentlich jedem und jeder verspricht.
Nils Markwardt: Du gehörst nicht dazu!
Nichts gegen die liberale Leistungsgesellschaft (so was käme der Zeit nicht unter), nur soll sie doch schon ihre Versprechen halten. Dass die Vorstellung einer verallgemeinerten Konkurrenz um Lebenschancen vielleicht systematisch Gewinner*innen und Verlierer*innen hervorbringen muss, ist überhaupt nicht Gegenstand der Kritik. Dass „liberale Leistungsgesellschaft“ eine Zumutung sein könnte, der zu entziehen erstes Menschheitsgebot sein sollte, wird nicht diskutiert. Nicht die Konkurrenz, sondern dass da halt nicht alle von vergleichbaren Plätzen aus in die Konkurrenz starten, wird kritisiert. Und wenn dann Leute zwangsläufig am unteren Ende der Lohnpyramide landen, sollen sie mit ihren „tatsächlichen Lebensrealitäten“ wenigstens „wahrgenommen“ werden. Es sagt viel über die Schäbigkeit des Kapitalismus, dass bereits das ein Gewinn für die Betroffenen wäre.
Diese Wahrnehmung, so schließt der Essay, kann den Betroffenen dann möglicherweise auch helfen, „höhere Löhne“ und damit eine materielle Anerkennung für ihre Leistungen zu erringen. Auch hier, in dieser progressivsten Forderung des Textes, bleibt es bei einer Anerkennung der „liberalen Leistungsgesellschaft“ und ihrer Zumutungen. Dabei spricht gar nichts dagegen, wenn Menschen mit niedrigen Löhnen sich für höhere Löhne einsetzen. Das ist oftmals ein Gebot der Vernunft und eine notwendige Voraussetzung dafür, ein würdigeres Leben führen zu können. Doch als politische Strategie weist die Debatte um „Klassismus“ einige Pferdefüße auf. Drei davon möchte ich im Folgenden kurz benennen:
(I) Wer gehört dazu?
Nicht nur Andreas Kemper hat den Anspruch erhoben, die kritische Klassismus-Theorie solle „kollektiv von Klassismusbetroffenen“ entwickelt werden (so formuliert von Andreas Kemper). Hier stellt sich nun aber die Frage, wer von Klassismus betroffen ist. Das hängt wohl davon ab, was wir unter Klasse und Klassismus verstehen wollen. Bei Gerd Müller herrscht noch Einigkeit, aber was ist mit Franz Beckenbauer? Dessen Vater war laut Text Ober-Postsekretär, hat also vermutlich eine 3-jährige Ausbildungszeit hinter sich. Ganz klar eine andere Klasse? Welcher Befund liegt dieser Kategorisierung zugrunde?
Diese Frage soll von denen diskutiert werden soll, die davon betroffen sind. Aber darf der Franz nun mitdiskutieren oder nicht? Hier beißt sich die Katze in den Schwanz: Wir wissen nicht, wer sich an der Debatte beteiligen darf, weil wir mit der Entscheidung bereits zentrale Elemente der Debatte vorausnehmen würden. Das müssen wir aber, um überhaupt anfangen zu können. In anderen Worten: Wir kommen nicht ohne ein objektives Element in der Theoriebildung aus.
Es ist nur ein scheinbarer Ausweg, hier auf dei Betroffenheit zu verweisen: Ganz offensichtlich ist Franz Beckenbauer eine andere Klasse, denn er erkennt ja Gerd Müller nicht an. Aber auch hier wiederholen sich die bekannten Fragen: Wer sagt das? Und wer sagt, dass diese Einschätzung das zentrale Kriterium für Klassenzugehörigkeit ist? Ich vermute mal: die Theorie, ganz objektiv.
(II) Wem gehört die Kultur?
Die herablassende Haltung gegenüber kulturellen Praktiken, von der oben bereits die Rede war, kann aus guten Gründen kritisiert werden. Aus der Perspektive der Klassismus-Kritik klingt das dann so: „Denn verachtet wird eben nicht ,nur‘ der Kontostand und die materiellen Lebensverhältnisse, sondern auch der Habitus, Geschmack und kulturelle Lebensstil.“
Der „kulturelle Lebensstil“ wird hier auf eine Weise mit den „materiellen Lebensverhältnissen“ verknüpft. Und weil die sakrosankt sind, d. h. als unveränderlich gelten, gelten auch die „kulturellen Lebensstile“ als sakrosankt und damit letztlich als der jeweiligen sozialen Gruppe zugehörig. Damit wird aber letztlich die ursprüngliche Dimension der Kritik am Zusammenhang von sozialem Status und kultureller Praxis in ihr Gegenteil verkehrt. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu, selbst möglicherweise ein Arbeiterkind (das hängt wohl von der Definition ab, siehe I), hatte in etwa wie folgt argumentiert: Es gibt reale Unterschiede in den Lebensverhältnissen und die Leute nehmen ihre Lebensverhältnisse als „Normalität“ wahr und entwickeln ein Selbstverständnis, das sich um diese Normalität dreht. Dadurch werden Ausschlüsse produziert, aber dadurch wird das Leben in den entsprechenden sozialen Lagen überhaupt erst aushaltbar.
Die kulturellen Praktiken gelten dabei aber nicht als etwas selbstgewähltes, sondern als etwas von den herrschenden Verhältnissen Hervorgebrachtes und über sie Vermitteltes. Sie wären grundsätzlich veränderbar. Ebenso, wie eine Aneignung materieller Reichtümer durch die Armen denkbar ist, ist auch eine Aneignung kultureller Errungenschaften denkbar, die ihnen vorenthalten werden. Diese Perspektive setzt allerdings voraus, dass da tatsächlich etwas vorenthalten würde, dass also nicht alle kulturellen Praktiken „gleich“ und damit auch „gleich-gültig“ seien. Bereits in der Arbeiter*innenbewegung der 1920er-Jahre wurden gemeinsame Lesezirkel abgehalten, in denen Goethe gelesen wurde.
Diese Praxen haben sich in der Alternativbewegung der 1970er-Jahre fortgesetzt. Es wurden gemeinsam Kinofilme, Theater und Museen besucht; über das Erlebte wurde im Anschluss gemeinsam diskutiert. Auf diese Weise wurde versucht, Kultur in einem kollektiven Prozess anzueignen. Georg Seeßlen beschreibt diese Bemühungen sehr eindrücklich in seinem lesenswerten Essay Minderheitenprogramm.
Es war auf jeden Fall ein linkes Projekt, Kunst, Kritik und Kultur ökonomisch-politisch, aber auch semantisch und praktisch so zu verändern, dass sie allen gehören würden. Dazu kann man weder Hegel-Texte in kurze Aussagesätze cracken noch Picassos Kubismus graderücken, weder Adorno den adornitischen Stil austreiben noch den Mann ohne Eigenschaften zusammenstreichen. Vielmehr müssten Sehen, Denken, Lesen und Debattieren zu einer gemeinsamen Anstrengung und zu einem gemeinsamen Vergnügen werden. Wenn ich etwas weiß, nach einem mehrfach gebrochenen Lebenslauf durch Klassen, Kulturen und Länder, dann dies: Die Trennung zwischen den Gebildeten und den Ungebildeten, zwischen den »Intellektuellen« und »uns normalen Menschen« (wie es immer so schön in antiintellektuellen Reaktionen heißt), hat nicht das Geringste mit Klugheit und Dummheit zu tun. Und nur am Rande mit Codes, die es zu knacken gilt. Sehr viel dagegen mit Ideologie. Von der Bequemlichkeit, also der Blödheit, auf allen Seiten abgesehen.
Georg Seeßlen: MInderheitenprogramm
Dieser Traum einer Aneignung kultureller Elemente von außen zielte auf eine Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten: Bislang einer bestimmten Gruppe vorbehaltene Kulturgüter sollten nun ausgeweitet und möglichst vielen Menschen zugänglich gemacht werden. Hier wurde „kulturelle Aneignung“ in einem ganz progressiven, emanzipatorischen Sinne ausgeübt:
Linke Kultur also war das Projekt eines gemeinsamen oppositionellen Diskurs- und Bildraumes. Das Bewusstsein, dass der Eintritt für einige mit mehr Mühen als für die anderen verbunden war, traf sich mit einer Hoffnung auf Solidarität: Hier konnte verrückt, kompliziert, eigensinnig, verschwurbelt und, was ist dagegen zu sagen: abgehoben gedacht und geträumt werden. Aber weder hegemonial noch hierarchisch, weder exklusiv noch distinguierend, weder besserwisserisch noch geheimwissenschaftlich. Jeder Gedanke hat die gleichen Rechte und Pflichten. Niemand muss Angst haben, keiner wird eingeschüchtert, jede wird gehört. Die Aufgabe dieses Diskursraumes der Linken bestand in einer Transformation (einer dialektischen Bewahrung und Kritik) der bürgerlichen Kultur. Hey, und wir hatten unseren Spaß dabei.
Georg Seeßlen: MInderheitenprogramm
Diese Perspektive setzt freilich voraus, dass es da etwas gibt, das anzueignen sich lohnt. Das soziale Herkunft eben nicht Schicksal ist, sondern das, wovon Menschen sich befreien wollen (und dies auch können). Diese bewusste, von solidarischer Kooperation getragene Aneignung lässt sich mit der gängigen Klassismus-Kritik allerdings kaum denken.
(III) Oben und Unten
Mit der Forderung, kulturelle Praktiken sozialer Gruppen nicht abfällig zu behandeln, geht eine (unter II bereits angedeutete) weitere, mal implizite, mal explizite Annahme einher. Die Vorstellung nämlich, dass die kulturellen Praktiken und die mit ihnen verbundenen sozialen Gruppen nicht in einem hierarchischen Verhältnis stünden, sondern grundsätzlich gleichberechtigt nebeneinander angeordnet seien. Das führt bisweilen auch zu der Annahme, bereits die Rede von arm und reich sei problematisch. Auf diese Weise wird dann das (ebenso berechtigte wie nachvollziehbare) Ansinnen von Menschen auf eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse mit Füßen getreten. So schreibt etwa Andreas Kemper auf Twitter:
Problematisch ist in diesem Bild nicht mehr länger die ungleiche Verteilung gesellschaftlichen Reichtums (von der Form des Reichtums mal ganz abgesehen), sondern lediglich die sich daraus ergebende Gruppenbildung. Die soll abgestellt werden, sodass der Wechsel von einer Gruppe in die andere problemlos so möglich wird, wie die Wechselwilligen das gerne möchte. Kemper ist mit dieser Perspektive übrigens überraschend konsequent. In einem anderen Tweet heißt es etwa:
Für Kemper folgen soziale Verwerfungen (bis hin zum transkontinentalen Sklavenhandel) ganz offensichtlich nur aus diskursiven Zuschreibungen. Weil irgendwer angefangen hat, von „Rassen“ zu reden, kam es am Ende zur Versklavung Schwarzer Menschen. Und weil irgendwer von „oben“ und „unten“ redet, fangen die Leute auf einmal an weniger Geld zu haben. Dabei sind diese Annahmen in dem einen wie im anderen Falle falsch. Wie Theodore W. Allen in Die Erfindung der weißen Rasse sehr überzeugend gezeigt hat, folgen die diskursiven Zuschreibungen ethnischer Gruppen und deren Wandel auf die bereits zuvor etablierte Sklaverei (die zunächst Schwarze wie weiße betraf). Und auch die erniedrigenden Kommentare zu den kulturellen Praktiken bestimmter sozialer Milieus sind nicht die Ursache für deren Armut, sondern lediglich eine nachträgliche Rationalisierung, durch die den Betroffenen selbst die Schuld an ihrer Situation gegeben werden soll (statt sie der viel gelobten liberalen Leistungsgesellschaft in die Schuhe zu schieben).
Kemper verfängt sich hier in den Fallstricken einer postmodernen Antidiskriminierungstheorie, die alle gesellschaftlichen Hierarchien in „Herrschaftsverhältnisse“ und dazugehörige „Diskurse“ auflösen will. Wobei die Herrschaft hier offensichtlich nur durch die Zuschreibung zu einer bestimmten Gruppe ausgeübt wird (durch die dann der Wechsel zwischen den Gruppen erschwert wird). Und nicht etwa durch Prozesse der Verarmung oder der Versklavung, die dann im Nachhinein eine ideologische Rechtfertigung erhalten.