Ulrike Herrmann bei einer öffentlichen Veranstaltung der Heinrich-Boell-Stiftung in Berlin Foto von Wikimedia

Zur Kapitalismuskritik von Ulrike Herrmann

Ab und an läuft mir Ulrike Herrmann über den Weg. Sie ist Wirtschaftskorrespondentin der taz. Dort schreibt sie viele Kommentare und kommt auch gut beim Publikum an. Ich kenne sie besser als Vortragende. Man kann Ulrike Herrmann gut zuhören. Sie spricht klar und deutlich, sie positioniert sich deutlich, ihre Aussagen sind pointiert. Im Februar 2019 sagt sie sogar: „Das kapitalistische System gehört abgeschafft.“ Das klang in ihrem damals aktuellen Buchtitel noch ganz anders: „Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung“ (2017).

Im Februar 2019 sind noch mehr Zuhörer*innen da als bei den beiden Veranstaltungen 2017. Etwa zweihundert Menschen sind der Einladung in den Pavillon, einem alternativen Kultur- und Veranstaltungszentrum in Hannover, gefolgt.

Herrmann hält ein Referat: Smith, Marx und Keynes als Klassiker der Wirtschaftstheorie

Ulrike Herrmann geht nacheinander Smith, Marx und Keynes durch. Adam Smith habe als erster erkannt, dass sich im aufkommenden Kapitalismus zwei Klassen gegenüberstünden. Er zielte demnach nicht auf das Individuum, sondern er betrachtete funktionale Gruppen. Smith habe die Wirkmächtigkeit der Herkunft analysiert und kritisiert. Heute wäre er Sozialdemokrat. Seine Kritik habe sich gegen die sozialen Bedingungen gerichtet, z. B. forderte er die Einführung der allgemeinen Schulbildung. Von den Unternehmern hätte er ein schlechtes Bild gehabt. Sobald sie sich träfen, ginge es nur darum, den Wettbewerb außer Kraft zu setzen. Gleichzeitig sei diese Koalitionsfreiheit den Arbeiter*innen nicht zugestanden worden.

Eine Anmerkung: Ob Smith heute Sozialdemokrat wäre, weiß man schon deshalb nicht, weil man nicht weiß, was ein Sozialdemokrat ist.

Herrmann geht in ihrem Vortrag über zu Marx. In dessen Denken habe es nach dem Fehlschlag der 1848er Revolution einen Bruch gegeben. Während vorher – u. a. dargestellt im Kommunistischen Manifest – das Proletariat als revolutionäres Subjekt ausgesprochen wichtig war, sei Marx nun von der Idee ausgegangen, dass sich das System Kapitalismus selber abschaffe. Aus dem Revolutionär sei ein Ökonom geworden.

An dieser Stelle haben alle Live-Veranstaltungen mit Ulrike Herrmann ein festes Ritual: Es mögen alle aufzeigen, die das Kapital gelesen haben. Zunächst der 1., dann der 2., zuletzt der 3. Band. Selbstverständlich werden die Leser*innen immer weniger. Nebeneffekt: Frau Herrmann weiß, wie ihr Publikum zusammengesetzt ist. In der Regel zeigt bei Band 1 ein Zehntel der Leute auf, bei Band 3 sind es noch eine Handvoll.

Nun gibt sie Lektürehinweise zum Kapital: Nach Herrmann

„haben die ersten drei Kapitel des Kapital mit dem Rest des Buchs fast nichts zu tun. (…) Der marxistische Theoretiker Louis Althusser hat daher empfohlen, den Anfang bei der Lektüre zu überspringen und gleich mit Kapitel 4 (…) einzusteigen“

Ulrike Herrmann: Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung, S. 119

Um Althusser gerecht zu werden, zitiere ich eine glaubwürdigere Quelle:

„In den 60er Jahren haben Louis Althusser und Étienne Balibar zu einer Wiederentdeckung des Marxschen ‚Kapital‘ beigetragen. Sie empfahlen, das erste Buch gründlich zu lesen, seinen Anfang auch wiederholt durchzugehen“

Rosdolsky-Kreis: Mit permanenten Grüßen, S. 382.

Auf einem der beiden Vorträge in 2017 hieß es noch, Jenny Marx habe gesagt, man solle den Anfang weglassen, nunmehr muss Althusser für Herrmanns Interesse herhalten. Marx‘ Verdienst sei es, den Konzentrationsprozess des Kapitals – Monopole, Oligopole, Trusts – herausgearbeitet zu haben. Für Herrmann ist Marx kein Kritiker der Politischen Ökonomie, sondern nur ein Politökonom.

Ulrike Hermanns besonderes Augenmerk gilt ihrem „Genie“ John Maynard Keynes, der einerseits heftig spekulierte und andererseits die Finanzmärkte abschaffen wollte. Nicht Rationalität, sondern Herdentrieb bestimme laut Keynes das ökonomische Verhalten der Marktteilnehmer. Er habe Eingriffe in die Wirtschaft befürwortet und lehnte Austeritätspolitik ab. Im Gegensatz zur Mainstream-Ökonomie interessieren Keynes die Geldflüsse.

Kapitalismuskritik und Linkskeynesianismus

In der Diskussion über Alternativen kommt Herrmann zu der Aussage, dass es wichtig sei, aus dem Kapitalismus auszusteigen. Insgesamt wird Marx darauf reduziert, die Konzentration des Kapitals kritisiert zu haben. Das macht er zwar auch, aber die anderen Aspekte – Kritik der Warengesellschaft, Kritik des Wertes, Arbeitswerttheorie – lässt Hermann außer Acht oder negiert sie bei Rückfragen aus dem Publikum. Z.B. sei die „Mehrwerttheorie ziemlicher Quatsch“. Rechnet man die paar Brocken Marx heraus, so ist Ulrike Herrmann eine Linkskeynesianerin. Was das ist, sei er kurz erklärt.

Während Neoliberale in Nachfolge Hayeks die Angebotsseite – Lohnsenkung, Niedriglohnsektor, Steuersenkung, Abbau des Sozialstaats – in den Vordergrund stellen, gehen Keynesianer*innen von der Nachfrageseite aus. Wenn die Nachfrage schlecht ist, so setzen sie auf staatliche Investitionen, um Nachfrage zu generieren. Staatliche Investitionen schaffen Arbeit, stellen die Infrastruktur her und kurbeln das kapitalistische System an.

Jetzt in Corona-Zeiten werden Keynes‘ Konzepte bisweilen sogar von der CDU verfochten. Linkskeynesianer*innen wollen noch zusätzlich den Sozialstaat retten und ausbauen. Sie sitzen in den Gewerkschaften, in den linken Parteien, bei attac und in NGOs. Linkskeynesianer*innen sind z.B. Mélenchon, Varoufakis, Heiner Flassbeck, James K. Galbraith oder Wolfgang Streeck. Dort, wo man Positionen in der politischen Debatte für links hält, sind sie meist linkskeynesianisch. Damit befindet sich Ulrike Hermann sozusagen im linken Mainstream.

Klimakrise und Schrumpfen

Im Juni 2020 moderierte Ulrike Herrmann eine Videokonferenz beim Netzwerk Ökonomischer Wandel (NOW). Nach NOW nutzt „eine wirksame Alternative drei Wege“: ‚Märkte am Gemeinwohl ausrichten‘, ‚Commons ausweiten‘ sowie ‚Den Staat umfassend demokratisieren‘. Markt und Staat interessierten mich weniger. Die Konferenz war eine der ersten Online-Veranstaltungen, zwischendurch brach mal der Kontakt ab. Es gelang Herrmann, die auseinanderstrebenden Auffassungen der Konferenzteilnehmer*innen mit Friederike Habermann (Tauschlogikfreiheit) auf einer Seite und Christian Felber (Gemeinwohl-Ökonomie) auf der anderen zusammenzuhalten.

Im Februar 2021 interessierte mich, was Ulrike Hermann bei medico international zu „The Reconstruction of the World“ (Online-Konferenz 12. – 14.2.2021) in ihrem Referat „Von der Not, nicht mehr wachsen zu dürfen“ (13.2.) thematisieren würde. Für meine Darstellung habe ich meine Notizen durch Aussagen Herrmanns ergänzt, die sie im Interview mit Jan Groos auf dem Podcast Future Histories äußert ). Sie spricht mit Groos zum gleichen Thema (was ihr hier nachhören könnt).

Ulrike Herrmann skizziert in ihrem Vortrag zwei Grenzen des Wachstums: Umweltgrenze und Rohstoffgrenze. Dann spricht sie gleich Klartext: „Ich bin keine Kapitalismuskritikerin.“ Der Kapitalismus habe den persönlichen Reichtum der Menschen verzwanzigfacht. Die Wachstumsgrenzen machen ein Schrumpfen notwendig. Schrumpfen im Kapitalismus gebe es jedoch gar nicht. Ein grünes Wachstum mit Marktinstrumenten, wie es Teile der Grünen und von Fridays for Future vertreten, verwirft sie aus meiner Sicht zurecht.

Herrmann sieht folgendes Dilemma: Wenn alle Branchen – Verkehr, Wohnen, Industrie – auf Klimaneutralität umgestellt würden, so benötigte man ungeheuer viel Strom. Beim Strom hat man ein Speicherproblem. Das wird alles teuer und ineffizient. Dagegen war die fossile Energie billig. Es wird in Zukunft eine Energieknappheit geben. Energie fehle, also müssen wir schrumpfen. Das werde keine Welt des Hungers sein, aber auch nicht mehr das Leben, was wir heute führen.

Aber was kann schrumpfen? Was ist überflüssig? – Fliegen sei ein Problem, weil es für Kerosin keinen Ersatz gibt. Privater Kraftfahrzeugverkehr könne nicht mittels Ökoenergie gedeckt werden. Banken wären überflüssig, weil heute Kredite vergeben werden, um Wachstum hervorzurufen. Das ist beim Schrumpfen überflüssig. Versicherungen würden obsolet. PR-Agenturen müssten keine Werbung für mehr und mehr Konsum in die Welt setzen. Genauso überflüssig wäre Messe-Logistik. Das heißt, Millionen von Arbeitsplätzen würden überflüssig. Es entstünden zwar Arbeitsplätze im Ökolandbau oder bei der Reparatur an der Natur, z. B. im deutschen Wald. Insgesamt liefe es jedoch auf Verzicht hinaus. Der Staat stehe vor der Herausforderung eine dynamisch wachsende kapitalistische Ökonomie in eine ökologische Kreislaufwirtschaft umzuwandeln und hätte dabei das Problem zu lösen, wie er Millionen Menschen z. T. mit Arbeit aber geringem Einkommen einbezieht. Das sei ein Setting, das für die Demokratie gefährlich sein könnte, da es garantiert rechtspopulistische und rechtsradikale Reaktionen auf den Plan rufe. Insgesamt sei der Einfluss des Staates wegen des Klimawandels in Zukunft viel größer als in der neoliberalen Phase.

Die kapitalistische Planwirtschaft

Die Transformation hin zu dieser Kreislaufwirtschaft sei unklar. Ein Modell gebe es, so Herrmann. Doch das sei nur eine Analogie: die britische Kriegswirtschaft im 2. Weltkrieg 1939 ff. Da seien statistische VWL-Methoden eingeführt worden wie etwa die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. Zudem sei diese Planwirtschaft auf privater Basis mit Rationierungen entwickelt worden. Jetzt die Einschränkungen: Der Vergleich mit der britischen Kriegswirtschaft hinkt. Die Briten hatten für sich das Gefühl, dem Faschismus überlegen zu sein und letztendlich zu siegen. Dadurch war die Zeitperspektive überschaubar. Das ist beim Klimawandel nicht der Fall. Die Parallele reduziert sich also auf staatliche Gesamtplanung bei privater Durchführung. Der Staat müsse planen. Das sei aber auch nicht neu und kein großer Unterschied zur jetzigen Corona-Zeit.

Weiter sei für das Schrumpfen zentral, was mit den Geldbergen, die ja auf Wachstum ausgerichtet sind, geschehen solle. „Das Geldsystem steht auf dem Prüfstand“. (Hört! Hört!) Die Lebensversicherungen der kleinen Leute wie die Aktien der Reichen könnten weggeworfen werden. Umgekehrt würde der Staat das Problem der Auseinanderentwicklung bei den Gehältern durch Umverteilung bremsen.

Aber an die Eigentumsfrage – von Jan Groos im Podcast mehrfach angesprochen, im medico-Vortrag kam das m. E. gar nicht vor – will Herrmann nicht ran. Die Menschen wollten Rückzugsbereiche haben und dazu diene das private Eigentum. Sie wollten auf Dauer nicht vergemeinschaftet werden. Das sowjetische Beispiel sei eine schlechte Erfahrung gewesen. Groos fragt nach, ob man Besitz und Eigentum nicht unterschieden könne (ein Prinzip von Tauschlogikfreiheit und Commons lautet „Besitz statt Eigentum“). Er fragt, ob man Privateigentum an Produktionsmitteln und Alltagseigentum nicht differenzieren müsse.

Für Herrmann gibt es keine fertigen Lösungen. Man solle eine Lösung auch nicht überfrachten, schließlich gelte es ja, sich vom Wachstum zu verabschieden, Rationierungen einzuführen und die Geldberge abzubauen. Außerdem sei das Privateigentum als Institution 10.000 Jahre alt. Der Kapitalismus, den es nach Herrmann seit ca. 1760 gibt, sei insofern ein totales System, als er alles, auch unser sonstiges Leben geprägt und verändert habe: wen wir heutzutage heiraten, wie wir Kinder erziehen, wie wir heißen. Wir könnten uns das Außen gar nicht vorstellen. Trotzdem werde der Kapitalismus zu einem Ende kommen.

Bei der medico-Veranstaltung wurde im Anschluss im Forum und mit den Zuhörer*innen diskutiert. Nina Treu (Konzeptwerk Neue Ökonomie Leipzig) brachte dabei zum Postwachstum ein, ‚Klimawandel aufhalten‘ und ‚Dekolonisation bzw. dem globalen Süden helfen‘ zu verbinden. Herrmann kritisierte das grundlegend. Kapitalismus könne ohne Ausbeutung und Unterdrückung gut existieren. „Kapitalismus setzt nie Ausbeutung zwingend voraus!“ Das sollten Linke wissen. Degrowth sei der zentrale Punkt, nicht Ausbeutung und Unterdrückung im Süden. Was sie unter Ausbeutung versteht, wo sie den Mehrwert an sich negiert, bleibt ihr Geheimnis.

Herrmann setzt auf 100% kleinbäuerliche Strukturen bei der Welternährung. Erster Schritt: auf Fleisch verzichten, damit die Landwirtschaft ökologisch werden kann. Bezüglich der deutschen Landwirtschaft stellt sie fest, dass dort mit 267.000 Menschen nur noch ganz wenig Personal beschäftigt sei und eigentlich durch die Subventionen bereits Planwirtschaft vorherrsche.

Was lerne ich daraus? Der Linkskeynesianismus will mit Hilfe des Staates den Kapitalismus reparieren. Er hat bereits eine Vision: die Kreislaufwirtschaft. Mit der gibt er sich allerdings auch zufrieden. Weiter geht die Utopie nicht. Ob die Keynesianer*innen in den Gewerkschaftshäusern das Degrowth-Programm mitmachen wollen, steht auf einem anderen Blatt.

Hat sich was geändert?

In den drei Präsenz-Veranstaltungen 2017 und 2019 fielen Aussagen wie „Geld hat nichts mit Kapital zu tun“, „Marktwirtschaft und Kapitalismus ist etwas anderes“, „Geld gibt es seit 4000 Jahren“, „Mit seiner Mehrwerttheorie hat Marx Unrecht“, „Der Kapitalismus beginnt mit der industriellen Revolution in England um 1760“.

Vor Corona hatte ich bei Ulrike Herrmanns Auftritten den Eindruck, sie schreibt, um auf die Bestsellerlisten zu kommen. Ihr Warenbegriff („Geld ist keine Ware, sondern ein soziales Konstrukt“ – als schließe das eine das andere aus) entspricht dem Alltagsdenken und ist mit dem Marxschen Denken nicht kompatibel. Genauso profan sind ihre Vorstellungen von der Ausbeutung (ohne Mehrwertaneignung). Sie „rationalisiere und naturalisiere“ „die spezifisch irrationale Dynamik, der diese Gesellschaftsform unterworfen ist“, schrieb Julian Bierwirth 2017 in seiner Rezension („Keine Kritik ist auch keine Lösung“: 3) bei Krisis-online. Ich hatte das für mich 2019 unter Bezug auf das Alltagsdenken noch um profanieren ergänzt. Diese Vorstellung von Ausbeutung mag „massentauglich“ sein, trägt aber sonst nichts bei.

Im Podcast Future Histories unterscheidet Herrmann die vorkapitalistische Welt von unserer und kann sich auch ein Ende des Kapitalismus vorstellen. Das sind ja schon erste Schritte. Aber sowohl in der Eigentumsfrage gegenüber Jan Groos wie bei gegenüber Nina Treus Forderung bei der NOW-Debatte, den globalen Süden mitzudiskutieren, kommen sofort Einschränkungen („nicht überfordern“, kein neues Sowjetsystem etc.).

Der Vorwurf, den man ihr vorher machen konnte, sie habe keine Perspektive, ist so nicht mehr haltbar. Die Vision heißt Kreislaufwirtschaft (die ist ja rein stofflich tatsächlich nötig). Das maximal Erreichbare ist eine kapitalistische Planwirtschaft mit einem starken Staat. Das klingt so ein bisschen wie SPD um 1900.

Mit klaren und deutlichen Worten, sehr pointiert und prägnant – so trägt Herrmann ja vor -, erzählt sie beinahe das Richtige. In einer Phase, wo es auch darum geht, das richtige Narrativ zu etablieren, bleibt Ulrike Hermann – trotz aller Lernerfolge – für mich nur zweite Wahl. Ärgerlicherweise falle ich immer wieder auf sie herein.

Rotkäppchen und der böse Keynes

Eine Rezension zum letzten Buch von Ulrike Herrmann hier auf Disposable Times.

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