Der Wirtschaftspodcasts „Wohlstand für alle“ nimmt sich in der neuesten Folge der Frage an, ob „eine Welt ohne Wachstum möglich“ sei. Tatsächlich geht es um die Frage nach einer Wachstumsreduktion. Fazit: eine Welt ohne Wachstum sein weder möglich noch wünschenswert. Dass Karl Marx dazu als Kronzeuge herhalten muss, ist schon fast eine intellektuelle Unverschämtheit.
Der Bezugspunkt der Darstellung des Wachstumsproblems, das wir bei Nymoen und Schmitt finden, orientiert sich an Aufsätzen von Leigh Phillips (Postwachstum als Illusion) und Branko Milanovic (Die Degrowth-Illusion). Wir möchten anhand dieser beiden Aufsätze daher kurz aufzeigen, welche Folgen eine verkürzte Kapitalismuskritik hat, die den Kapitalismus als Herrschaft der Kapitalist*innen-Klasse missversteht und die dieser Produktionsweise innewohnenden Automatismen unterschätzt.
Fortschrittsmythus und Staatsaffirmation
Bereits Leigh Phillips macht den Rahmen seiner Argumentation nur implizit deutlich. Er geht ganz offensichtlich von der Unterscheidung einer Systemdifferenz von Markt- und Planökonomien aus (statt die Zentralverwaltungswirtschaft als Binnendifferenz innerhalb des Kapitalismus zu verstehen). Der Markt gilt ihm dabei als das Schlechte, der Staat hingegen als das Gute. Dementsprechend sieht auch die Vision aus, die er anstrebt. Er möchte gerne eine ebenfalls auf unendliches Wachstum ausgerichtete sozialistische Planökonomie und stellt zurecht fest, dass sowas mit den Ideen der Wachstumskritik nicht zu machen ist:
Was der Begriff Degrowth jedoch von vornherein ausschließt, ist die Möglichkeit sozialistischen Wachstums: eine grenzenlose, aber genau geplante Steigerung der Wertschöpfung, die das Ökosystem eben nicht zerstört. Diese Absage an sozialistisches Wirtschaftswachstum enthält drei folgenschwere Fehler.
Leigh Phillips: Postwachstum als Illusion
Auch Schmitt und Nymoen knüpfen in ihrer Darstellung an diese Vorstellung an, etwa wenn sie zum Ende ihres Beitrages darauf hinweisen, der Staat müsse die Ökonomie regulieren (um sinnloser Ressourcenverschleuderung vorzubeugen, Min 25:38) und auch im Sozialismus sei Wachstum notwendig (Min 26:48).
Dabei verweist die Annahme, dass sowohl die staats- als auch die marktbasierte Warenproduktion nicht um Wirtschaftswachstum umhinkommen, ja bereits auf die enge Verwandtschaft dieser beiden Wirtschaftsweisen. Tatsächlich sind sie nur bestimmte Extrempunkte innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise, die seit jeher zwischen den Polen Markt und Staat hin- und herschwankt.
Der Staat gilt für Phillips nun als Garant für gesellschaftlichen Fortschritt und dieser als das zentrale Zeichen der menschlichen Zivilisation. Das Fortschritt existiert, weiterhin möglich und letztlich in der Lage ist, alle Probleme zu lösen, auf die die Welt möglicherweise zusteuern könnte, verwandelt auch diesen Ansatz in einen Technik-Fetischismus. Er verbindet die Vorstellung, alleine technischer Fortschritt würde für eine gerechte Welt sorgen, mit dem Appell an den Staat. Doch der Weg von Leigh Phillips zu Elon Musk, Steven Pinker oder Hans Rosling ist nur kurz. Die halten zwar eher den Markt als den Staat hoch, doch auch sie stellen den technischen Fortschritt und das traditionelle Entwicklungsdenken in das Zentrum ihrer Argumentation. Dabei ist diese Nähe kein Zufall und macht deutlich, dass die marxistische Klassenkampfideologie nichts weiter als ein Ableger der liberalen Fortschrittserzählung ist. Mit radikaler Gesellschaftskritik hat alles das nichts zu tun.
Doch von der Bezugnahme auf die marxistische Geschichtsphilosophie mal ganz abgesehen krankt die Darstellung von Phillips noch an einer weiteren Stelle. Denn er setzt die für den Kapitalismus spezifischen Verkehrsformen stets als „Normalität“ voraus. Was meine ich damit?
Der Doppelcharakter des kapitalistischen Reichtums
Karl Marx, den Nymoen und Schmitt unter ihrem Video als zentrale Referenz angeben, verweist direkt zum Beginn seines Hauptwerkes Das Kapital darauf, dass der gesellschaftliche Reichtum im Kapitalismus aus zwei gänzlich unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden kann. Zum einen erscheint er uns als sinnlich-stofflicher Reichtum. Wenn wir aus dieser Perspektive auf den Wohlstand der kapitalistischen Gesellschaft sehen, dann erkennen wir Autos und Stühle, Tische, Rheumapflaster und Panzer. Ganz unterschiedliche Gebrauchsgegenstände erscheinen dann vor unserem (geistigen) Auge, die zur Befriedigung ganz unterschiedlicher Bedürfnisse genutzt werden können. Doch im Kapitalismus erscheinen diese Dinge des täglichen Gebrauchs gleichzeitig als abstrakt-gesellschaftliche Chiffren: Sie haben einen Preis. Den bekommen sie, weil es die Spezifik der sozialen Beziehungen im Kapitalismus ist, dass die Menschen sich nicht direkt aufeinander beziehen, sondern nur indirekt über die Produkte ihrer Arbeit.
Auf diese Weise werden die Arbeitsprodukte zu Waren und es entsteht eine für den Kapitalismus spezifische Form der gesellschaftlichen Vermittlung, die sich zwischen die Menschen schiebt. Diese Beziehungsform nennt Marx „Wert“. Den dieser kruden Form der Gesellschaftlichkeit innewohnenenden Drang zur Expansion (d. h. zum Wirtschaftswachstum) nennt Marx „Kapital“.
Innerhalb einer Gesellschaft, die auf der vermittelten Beziehung von Menschen zueinander (Wert) und der damit verbundenen Selbstzwecklogik zur Vermehrung dieser Beziehungsform (Mehrwert) beruht, ist der Zwang zum Wachstum selbstverständlich vorausgesetzt. Und genau auf dieser Ebene argumentieren sowohl Phillips als auch Nymoen und Schmitt. Sie beschreiben die monetären Folgen des Wachstums und ziehen daraus Schlüsse. Dass die damit verbundene Logik aber auch für den stofflichen Charakter des (kapitalistisch produzierten) Reichtums gilt, wird von ihnen nicht mal untersucht, sondern schlicht unterstellt.
Warenproduktion und Wertschöpfung
Das führt Leigh Phillips dann zu einer folgenschweren Fehleinschätzung. Er schreibt:
Durch technologische Innovation und politischen Wandel können wir die gleiche Wertschöpfung mit absolut wie relativ weniger Ressourcen erzielen.
Leigh Phillips: Postwachstum als Illusion
Dass dem so ist, wäre erst mal zu zeigen. Nehmen wir ein simples Beispiel, um uns der Fragestellung zu nähern. Wir beziehen uns dabei auf die Kategorien der Marx’schen Kritik der Politischen Ökonomie, auf die ja Schmitt und Nymoen selbst verweisen.
Wenn in einem Unternehmen 100 Automobile hergestellt werden und sich in jedem Automobil 100 gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeitsstunden vergegenständlichen, dann haben die 100 Autos einen Wert von 10.000 Stunden. Nehmen wir, aus Gründen der Einfachheit, zudem an, dieser Wert schlägt sich in einem Preis von 10.000 Euro nieder.
Die von Phillips beschworene technologische Innovation hätte nun, um im Beispiel zu bleiben, eine Verdopplung der stofflichen Produktivität zur Folge. Wir unterstellen also eine Prozessinnovation und sehen zunächst einmal von der Möglichkeit einer Produktinnovation ab. Die 100 Automobile könnten also in jeweils 50 Stunden produziert werden und vergegenständlichten insgesamt nunmehr lediglich 5.000 Stunden gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeitszeit. Dieser Wert würde sich dann an der gesellschaftlichen Oberfläche in einem Preis von 5.000 Euro niederschlagen.
Damit hätte sich die Wertschöpfung des Automobilunternehmens halbiert, obwohl doch eine identische Anzahl an Gebrauchswerten (Autos) hergestellt, eine identische Menge gesellschaftlicher Ressourcen (Metall, Kunststoffe etc.) vernutzt und eine identische Menge an Schadstoffen in die Luft gepustet wurde.
Um die Wertschöpfung auch nur stabil zu halten, müsste das Unternehmen die eigene Produktion also verdoppeln. Nunmehr würden 200 Autos hergestellt, die zusammengenommen einen Wert von 10.000 Stunden repräsentieren und für beispielhafte 10.000 Euro über den Tisch gingen. In diesem Fall haben sich allerdings die Ressourcen und die Schadstoffe, die bei der Produktion vernutzt werden bzw. durch sie anfallen, ebenfalls verdoppelt.
Soll es tatsächlich zum heiligen Wirtschaftswachstum kommen, müsste die Produktion noch deutlich stärker ausgebaut und dementsprechend mehr Ressourcen vernichtet und mehr Schadstoffe ausgestoßen werden.
Nun gibt es natürlich einen Mechanismus, um diese Tendenz der Warenproduktion auszugleichen, und auf den wird Phillips wohl auch anspielen. Sie liegt in der Produktinnovation, d. h. in der Erfindung neuer Produkte, die mit weniger Rohstoffen auskommen. Das könnte, um ein einfaches Beispiel zu wählen, ein Auto sein, das nur halb so viel Rohstoffe zur Produktion benötigt.
In diesem Beispiel wäre dann der Verbrauch der Rohstoffe bei einer stagnierenden Produktion nicht länger verdoppelt, sondern würde seinerseits stagnieren. Um die anvisierte Steigerung der Wertschöpfung auszugleichen, müsste die Einsparung noch einmal höher ausfallen. Das von Phillips als Selbstverständlichkeit unterstellte Szenario läuft daher auf eine ständige Steigerung der Ressourcenproduktivität hinaus. Doch auch die ist nicht so einfach zu haben.
Die Kosten der Wertsteigerung
Dafür gibt es zwei Gründe, von denen der erste sich bereits auf der Ebene der stofflichen Zusammenhänge finden lässt. Der zweite liegt in der Akkumulationslogik des abstrakten Reichtums begründet.
Rein stofflich zielt Phillips Argumentation, wie oben zitiert, auf eine grenzenlose Steigerung der Wertschöpfung ab. Die genutzten Ressourcen können nun zwar sparsamer eingesetzt werden. Das Auto in unserem Beispiel lässt sich mit deutlich weniger Ressourcen herstellen. Bei einem Wirtschaftswachstum, das ohne Grenze in Richtung unendlich strebt, bräuchte es dann allerdings einen Ressourcenverbrauch pro Stück, der in Richtung Null tendiert. Nun lassen sich zwar Autos durchaus mit weniger und auch mit weniger schädlichen Materialien herstellen. Sie lassen sich aber nicht gänzlich ohne Material herstellen. In einer endlichen Welt ist unendliches Wachstum nicht zu haben. Eigentlich eine Binsenweisheit.
Auf der Ebene des abstrakt-gesellschaftlichen Reichtums stellt sich zudem ein zweites Problem. Denn die Umstellung der Produktion braucht selber eine Erneuerung des Maschinenparks, der für die Produktion genutzt wird. Und um diese neuen Maschinen anschaffen zu können, braucht unser Automobilunternehmen einen zuvor erwirtschafteten Gewinn. Es muss also erst mal unter den alten Bedingungen die Produktion erweitern, um dann mit den erzielten Gewinnen die neuen, innovativen Produktionsmittel einkaufen zu können. Eine stete Aufrechterhaltung des Wirtschaftswachstums wird damit notwendig, um die Gewinne hereinzubekommen, die notwendig sind, um die Produktion weniger ressourcenintensiv durchführen zu können. Und dies auf stets steigender Stufenleiter, d. h. bei ständig steigendem Produktionsniveau (es müssen immer mehr Autos hergestellt werden) und relativ sinkenden Einsparmöglichkeiten pro Stück (pro Auto wird immer weniger eingespart). Da kämpft der technologische Entwicklungsdrang stetig gegen die gesellschaftlichen Beziehungen an, in denen er zum Tragen kommen soll. Die ganze Operation gleicht der Fortbewegung in einem Hamsterrad. Richtig weit kommt mensch damit nicht.
Produktion für den Konsum oder Selbstzweck?
Doch diese ganzen, bereits von Marx diskutierten Folgen der kapitalistischen Produktionsweise, tauchen weder bei Phillips noch bei Nymoen und Schmitt auf. In beiden Darstellungen wird von monetären Darstellungen zur Frage des Wirtschaftswachstum auf die grundsätzliche (Un-)Möglichkeit seiner Begrenzung geschlossen. Das ist vor dem Hintergrund der marx’schen Analyse freilich unredlich und fällt im theoretischen Erkenntnisstand weit hinter Marx zurück.
Das gilt auch für die „Überschlagsrechnungen“, die uns Branko Milanovic in seinem Beitrag zur Degrowth-Illusion präsentiert. Auch Milanovic diskutiert an keiner Stelle über die stofflichen Möglichkeiten der Welt, sondern klebt stets an den monetären Wirkungen der Gesellschaft. Und so errechnet er überschlagsmäßig, das eine Reduzierung des globalen BIP immense Einkommensverluste auf für die proletarisierten Massen in den Industrienationen zur Folge hätte. Und so kommt er zu dem Schluss:
Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieses Ergebnis, egal wie sehr wir auch an den zugrundeliegenden Annahmen drehen, auch nur ansatzweise die nötige politische Unterstützung finden wird – nicht einmal bei den Degrowth-Befürwortern selbst, von denen viele ihren Konsum um vielleicht 80 bis 90% einschränken müssten.
Branko Milanovic: Die Degrwoth-Illusion
Doch auch in dieser Argumentation, die ebenfalls ausführlich von Nymoen und Schmitt vorgetragen wird, findet sich ein recht leicht zu entschlüsselndes Missverständnis über die kapitalistische Produktionsweise. Denn Milanovi unterstellt, dass er von den offiziellen monetären Wachstumszahlen direkt auf die Konsummöglichkeiten der Individuen schließen kann. Damit wird jedoch stillschweigend produziert, dass ein Großteil der kapitalistischen Produktion zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse vonstattengeht.
Das steht so zwar in den VWL-Lehrbüchern, hat aber mit der kapitalistischen Realität nichts zu tun. Ganz im Gegenteil geht es im Kapitalismus ja um den Selbstzweck der Wertverwertung, um die Steigerung der Produktion um ihrer bloßen Steigerung willen – um letztlich aus Geld mehr Geld zu machen. Ein nicht unerheblicher Teil der Produktion fällt dabei tatsächlich in den Selbstzweckbereich dieser Wertverwertung und kommt – wenn überhaupt – nur indrekt und über Umwege bei den Leuten an. Das gilt nicht nur für die Produktion neuer Produktionsmittel (Maschinen etc.), sondern auch für die Kosten zur Aufrechterhaltung der Produktionsweise (Polizei, Militär, Kassensysteme im Supermarkt, Tresore etc.). Wir haben diese Zusammenhänge an anderer Stelle ausführlich dargestellt (etwa hier oder hier)
Es ist zu viel der Ehre für den Kapitalismus, ihm zu unterstellen, hier ginge es letztlich doch irgendwie um die Menschen. Das Gegenteil ist der Fall. Doch die Darstellung im „Wohlstand für alle“-Podcast verdunkelt diese Zusammenhänge und kolportiert die liberale Erzählung, dass sich alle Probleme mit ein wenig Technik in den Griff bekommen lassen. Stattdessen wäre es wichtig, sich über die kapitalistische Gesellschaftsform Gedanken zu machen. Die müsste nämlich mal weg.