Zahlen - die Götter des kapitalistischen Wissenschaftsbetriebs.

Die Erfindung der abstraken Maße

In unserem täglichen Leben umgeben wir uns wie selbstverständlich mit Maßzahlen. Wir gehen morgens 500 Meter die Straße entlang und kaufen dann einen Liter Milch für schlappe 1,19 €. Überall umgeben uns diese Zahlen und bieten uns Richtwerte für unser Verhalten. Da fällt es uns manchmal gar nicht so einfach uns vorstellen, dass diese abstrakten Maßzahlen für viele Menschen in vormodernen Gesellschaften gar nicht so selbstverständlich waren.

„Abstrakt“ sind diese Maßzahlen, weil sie von der konkreten Situation vor Ort abstrahieren. Bei einem gut ausgebauten Fuß- oder Radweg etwa sind die 500 Meter schnell erledigt. Wenn dazwischen aber zwei Baustellen und eine viel befahrene Straße ohne Ampel liegt, kann es schon mal dauern, bis wir da sind. Die abstrakte Maßzahl „500 Meter“ abstrahiert von diesen konkreten Besonderheiten und gibt eine Entfernung an, die unabhängig von Zeit und Raum durchaus korrekt ist, aber über den morgendlichen Aufwand nur sehr begrenzt Auskunft gibt.

Das gilt ganz besonders auch für den Preis. Denn die 1,19 Euro sagen nur wenig darüber aus, wie die Kuh gelebt und gefressen hat, wie die Arbeitsbedingungen der Bäuer:innen waren oder welche Ressourcen verbraucht und Schadstoffe freigesetzt wurden, damit sie den Weg in den individuellen Magen findet.

Vormodernes Maß

In vormodernen Gesellschaften hingegen orientierten sich die Menschen oftmals nicht an derartigen abstrakten Maßen, sondern an konkreten Angaben. Florian Hurtig fasst den Unterschied sehr anschaulich zusammen:

Konkrete Maße sind uns heute meist nur noch in Begriffen überliefert, wie ,ein Steinwurf’ oder ,in Hörweite’ als Streckenmaß oder ,eine Wagenladung’ oder ,eine Handvoll’ als Volumeneinheiten. Eine konkrete Maßeinheit für eine Fläche war der ,Morgen’, danach bemessen, wie viele Morgen (Vormittage) Feldarbeit benötigt wurden, um die jeweilige Fläche zu bearbeiten. Die Fläche wurde nach Morgen und nicht nach Tagen bemessen, weil es im Mittelalter üblich war, dass ein Arbeitstag nur von Sonnenaufgang bis zum Mittag reichte. Die Fläche, die an einem Morgen bearbeitet werden kann, variiert natürlich je nach Beschaffenheit des Bodens, je nach Wetterlage (nasser Boden oder trockener Boden), je nach gesäter Kultur, je nach konkret verwendeter Pflugtechnik, je nach Verfassung der Tiere und der arbeitenden Menschen. Ein Morgen Land war also nach der konkreten Bemessung (eines Vormittags an Arbeit) überall identisch – nach einer abstrakten Bemessung (umgerechnet zum Beispiel in Quadratmeter) unterschied er sich aber von Region zu Region erheblich.

Florian Hurtig: Paradise Lost, S. 178

Nun ist es gar nicht so, dass die neuen, abstrakten Maßzahlen gar nichts aussagen würden. Sie sind ja nicht „falsch“ in dem Sinne, dass sie nicht stimmen würden. Es ist halt nur so, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Denn für Menschen, die sich in konkreten Lebenssituationen zurechtfinden müssen, helfen die abstrakten Maße Zunächst einmal nicht viel weiter. Da sind konkrete Angaben manchmal viel praktischer. Zu wissen, dass ich direkt nach der Tankstelle rechts abbiegen muss, ist ja auch heute oft praktischer als zu wissen, dass es „nach 5,356 Kilometern“ oder „nach der 27. Ampel“ soweit ist.

Oder, in den Worten von Florian Hurtig:

,Für einen Bauern ist es ungefähr so hilfreich zu wissen, dass er 20 Acre Land pachtet, wie für einen Wissenschaftler zu wissen, das er 20 Kilogramm Bücher gekauft hat.‘ Wenn die Maßeinheit hingegen ausdrückt, wie lange durchschnittlich für die Bearbeitung benötigt wird oder wie viele Kühe das Jahr über von einer Weide ernährt werden können, dann hält sie nützliche Informationen für die Bäuer:innen bereit. Der für den Weltmarkt notwendige Übergang von konkreten zu abstrakten Maße verlagert also die Informativität von der konkreten Bewirtschaftung vor Ort hinein in die Wirtschaftsbücher der Nationalökonomen und Händler. Oder anders ausgedrückt: die Bäuer:innen wurden, nachdem sie ihrer Allmenden beraubt waren, nun auch noch ihrer Maßeinheiten beraubt.

Florian Hurtig: Paradise Lost, S. 178

Während konkrete Maßeinheiten im täglichen Leben oft sehr vorteilhaft sein können, scheinen sie nicht zu den neuen Ansprüchen der modernen Weltordnung gepasst zu haben. Sie lassen sich weniger gut zusammenzählen, als dies bei den neuen abstrakten Maßen der Fall ist. Wer wissen will, wie groß das eigene Herrschaftsgebiet ist oder wie sich die Wirtschaftsleistung entwickelt, kommt um verallgemeinernde, abstrakte Maßzahlen nicht herum. Davon haben wir in dieser Reihe ja schon häufiger berichtet.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert