In ihrem neuen Buch räumt Ulrike Herrmann zunächst einmal ganz fundamental mit linken Mythen auf. Der Kapitalismus, so argumentiert sie, mag zwar auch seine problematischen Seiten haben. Es gibt da diesen Wachstumsimperativ und auch die soziale Lage einiger Menschen könnte besser sein. Aber sonst? Eine wahre Erfolgsgeschichte!
Ulrike Herrmann präsentiert sich als klimakritisches Pendant zu Hans Rosling und preist die Erfolge des Kapitalismus. Dieser sei in England aus einem ganz einfachen Grund entstanden: hier waren die Löhne am höchsten. Und nur wenn die Löhne hoch sind, lohnt es sich zu investieren – denn nur dann ist auch die Nachfrage gedeckt. Seitdem hat sich der Kapitalismus auf der ganzen Welt ausgebreitet und den Menschen ein gutes Leben gebracht.
Herrmann setzt den Kapitalismus dabei mit der Industrialisierung gleich, die sich Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts in England durchsetzt. Was vorher passiert ist, so ihre Ableitung, hatte mit Kapitalismus nichts zu tun. Und auch innerhalb dieser Epoche lässt sie nur ökonomische Prozesse im ganz unmittelbaren Sinne als Produkte von „Kapitalismus“ gelten. Das ist die zentrale Verkürzung ihres Verständnisses von der kapitalistischen Gesellschaft: Sie begreift den Kapitalismus als eine Art des wirtschaftlichen Handelns, nicht aber als eine Lebens- und Beziehungsform. Seine Entstehung in Europa gilt ihr als ein „historischer Zufall“, eine Verbindung zu einer spezifischen europäischen Philosophie- und Aufklärungstradition oder der spezifischen Beziehungsform der Warengesellschaft sieht sie hingegen nicht. Kapitalismus bleibt für sie stets eine Frage von Ökonomie und Markt, von Gewinn und Wachstum. Darum kann sie dann auch die Planwirtschaft nach dem Muster der britischen Kriegsökonomie in den 1940er-Jahren als Gegenentwurf zum Kapitalismus anpreisen.
Der Ausgangspunkt ihres Verständnisses von Kapitalismus hat zudem zur Folge, dass sie ihn nur als eindimensionales Verhältnis von rational planenden Akteur:innen denken kann. Wenn eine Handlung Folgen hat, die für das Kapital kontraproduktiv sind, dann sind es per Definition keine kapitalistischen Handlungen.
Diese Verkürzung hat zur Folge, dass sie viele Effekte kapitalistischer Rationalität als etwas nicht-kapitalistisches begreift. Das gilt etwa für die Geschichte des Kolonialismus oder die im kapitalistischen Zeitalter geführten Kriege. Den Kolonialismus benennt sie in ihren Ausführungen durchaus – doch er soll nicht wegen, sondern trotz des Kapitalismus existiert haben. Der Kolonialismus etwa sei ein riesiges Zuschussgeschäft gewesen. Nur weil die Baumwoll- und Tabakplantagen in der Neuen Welt so produktiv waren, sei es möglich gewesen, sie mit Sklav:innenarbeit zu betreiben. Tatsächlich seien sie aber aus ökonomischer Perspektive ein Zuschussgeschäft gewesen.
Auch die Kriege der kapitalistischen Epoche haben ihre Ursache nicht im Kapitalismus, denn schließlich sind sie ja ebenfalls ökonomisch kontraproduktiv gewesen. Sie seien in aller Regel, so erklärt uns Herrmann, von demokratisch nicht legitimierten Eliten eingefädelt worden und alles andere als im Interesse des Kapitals gewesen. So schreibt sie über den Ersten Weltkrieg:
„Diese Katastrophe hatten deutsche Generäle zu verantworten, nicht Unternehmer. Die meisten Firmenchefs konnten sich nicht vorstellen, dass es tatsächlich zu einem Krieg kommen würde.“
Ulrike Herrmann: Das Ende des Kapitalismus
Ganz ähnlich argumentiert sie auch in Bezug auf den Irakkrieg 2003. Hier stellt sie zunächst durchaus zurecht fest, dass Krieg eine überaus teure Methode ist, um an Öl zu kommen. Es zu kaufen ist auf jeden Fall im Ergebnis die günstigere Möglichkeit, es sich zu verschaffen. Weil es nun Menschen gibt, die aus einer antiimperialistischen Theorietraditon heraus immer mal wieder das Öl als Kriegsgrund anführen, schließt sie daraus umgekehrt, dass der Krieg dann ja gar nichts mit dem Kapitalismus zu tun habe. Dabei muss sie aber vollständig von ideologischen Elementen abstrahieren, die sich vom plumpen Interessenstandpunkt der Beteiligten ablösen und beginnen, ein Eigenleben zu führen. Die Idee der Nation etwa ist eng mit der Durchsetzung der kapitalistischen Warengesellschaften verbunden. Um den Nationalismus der deutschen Generäle jenseits kapitalistischer Logiken zu verstehen, bedarf es dementsprechend schon einiges an Geschichtskonstruktion. Auch der Rassismus neokonservativer Wutbürger:innen, um ein anderes Beispiel zu wählen, ist ja ökonomisch betrachtet kontraproduktiv für den Wirtschaftsstandort. Trotzdem hat er seine Ursache in bestimmten Vorstellungen von Recht und Ordnung, von Arbeit und Leistung, von Nation und Zugehörigkeit, die eng mit der Warenökonomie verbunden sind und in ihr ihre Wurzeln haben.
Wie konzipiert Ulrike Herrmann den Kapitalismus?
Als Ursache für die Entstehung des Kapitalismus macht sie die spezifische Situation in England zum Beginn der Industrialisierung aus. Hier habe es billige Energie und zugleich vergleichsweise hohe Löhne gegeben. Deshalb habe sich die Investition in Maschinen gelohnt und so konnte sich der Kapitalismus gesellschaftlich verallgemeinern. Diesen Mechanismus macht sie auch für die Gegenwart aus. In Bangladesch etwa seien die Löhne so niedrig, dass es sich für die Unternehmen nicht rechne, die Manufakturarbeit in der Textilindustrie durch große Maschinerie zu ersetzen. Damit stellt sie die realen Abläufe auf den Kopf: Das Akkumulationsmodell von Bangladesch beruht darauf, mit niedrigen Löhnen die höhere Produktivität in den kapitalistischen Zentren auszugleichen und sich so mit unterproduktiven Betrieben trotzdem am Markt zu halten.
Der Wachstumszwang des Kapitalismus entsteht laut Herrmann nun aus dem Kredit. In einer Wirtschaft, so argumentiert sie im Anschluss an Mathias Binswanger, würden Gewinne und Verluste sich immer ausgleichen. Ein dauerhafter Zuwachs sei nur möglich, wenn etwas von außen in das System hineingegeben werde. Das sei der Kredit, der dann abbezahlt werden müsse und dadurch einen Druck auf die Unternehmen ausübe, ständig Gewinn zu erwirtschaften und weiter zu wachsen.
Sie distanziert sich zwar von der im zinskritischen Milieu sehr beliebten Theorie, dass das Wachstum am Zins hänge (wie sie Silvio Gesell zugeschrieben wird), doch ihre Argumentation steht trotzdem seltsam auf dem Kopf. Denn tatsächlich gibt es noch einen anderen Weg, wie im regelmäßigen wirtschaftlichen Verkehr ein Zuwachs entstehen kann. Dafür braucht es nur eine Ware, die selber in der Lage ist, mehr Werte herzustellen, als zu ihrer Produktion benötigt werden. Schon Marx hatte darauf hingewiesen, dass die Unternehmen mit der Arbeitskraft eine solche Ware vorfinden. Den Drang zum Wachstum macht Marx dagegen im Bemühen der Unternehmen fest, im Wettbewerb mit den anderen Unternehmen Vorteile durch Steigerung der innerbetrieblichen Produktivität zu erlangen (bei Marx heißt das dann „Extramehrwert“).
Die stofflichen Grenzen des Kapitalismus
Wir sollten aber trotzdem festhalten, dass sie den zentralen Kern des Kapitalismus (immerhin) in der Produktion ausmacht. Sie kritisiert sowohl die Vorstellung, die Triebkraft des Kapitalismus sei der Konsum, als auch die Auffassung, das Bruttoinlandsprodukt sei nur eine fixe Idee, die beliebig durch andere Maßstäbe ersetzt werden könne.
Ihre empirischen Passagen, in denen Herrmann die Widersprüche der aktuellen klimapolitischen Weltlage analysiert, sind, trotz dieser Mängel in der Meta-Erzählung, sehr lesenswert. Detailliert geht sie die unterschiedlichen Vorstellungen von grünem Wachstum durch und zeigt, dass diese schon rein stofflich nicht realistisch sind.
Die Idee, CO2 aus der Luft zu saugen? Nicht absehbar. Alleine schon deshalb, weil es für das Klimagas keine Endlagerstätten gibt und für solche auch mehr Platz benötigt wird, als etwa in den ehemaligen Kohlebergwerken durch die Entnahme der fossilen Energieträger frei geworden ist. Auch Salzstöcke kommen dafür nicht wirklich in Frage, da die Einlagerung von CO2 die ohnehin oftmals schon instabile Geologie der Salzstöcke noch weiter destabilisieren würde.
Atomkraft? Viel zu teuer und zu ineffizient, von den Risiken und dem ungelösten Endlagerproblem ganz abgesehen. Detailliert geht sie auch Ideen zu kleinen, dezentralen Reaktoren nach und zeigt, dass diese kaum profitabel betrieben werden können. Sie kämen ohnehin zu spät, um einen Beitrag gegen die Klimakrise zu leisten. Energietransport von der Sahara nach Deutschland? Zu teuer und zu platzintensiv.
Und was ist überhaupt mit den Rohstoffen, aus denen wir die regenerativen Anlagen bauen? Die sind knapp und können oft nur unter beträchtlichem Aufwand gefördert werden.
Sie verweist auf die historischen Traditionen in der Sozialdemokratie und im Liberalismus, in denen die technischen Möglichkeiten neuer Energien strukturell überschätzt wurden. Und sie zeigt auf, wie weit die reale Energieproduktion und der potentielle Bedarf in einer kapitalistischen Wachstumsökonomie auseinanderliegen.
Viele ihrer empirischen Beschreibungen über die ökologisch zerstörerischen Wirkungen der kapitalistischen Ökonomie sind dabei gar nicht falsch, sie bekommen aufgrund der etwas schrägen Gesamtargumentation aber einen schalen Beigeschmack. Und so bleiben wir mit einem zweischneidigen Urteil zurück: Ulrike Herrmann kann zwar zeigen, dass der Kapitalismus den Klimawandel nicht aufhalten wird. Trotzdem weiß sie gar nicht, was der Kapitalismus überhaupt ist.
Deshalb ist ihrem Vorschlag, in welche Richtung sich die Politik orientieren sollte, mit Misstrauen zu begegnen. Die britische Kriegswirtschaft im Zweiten Weltkrieg ist es, an der sie Gefallen gefunden hat. Eine Wirtschaft, die weiter auf das Privateigentum an Produktionsmitteln setzt, dies aber über einen ausgetüftelten Plan und einen starken, wirtschaftlich aktiven Staat koordiniert. Wie der planende Staat freilich die Widersprüche der Warenproduktion umgehen soll, darüber verliert sie leider kein Wort.
Redaktioneller Hinweis:
Weiterführende TexteRezension zu Texten über Ulrike Herrmann findest du hier:
Rezension zu Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen
Rezension zu Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung
Veranstaltungsbericht einer Veranstaltung mit Ulrike Herrmann
Danke für die aufschlussreiche Rezension.